
Weltweit existieren immer noch knapp 15.000 Atomwaffen, etwa 93 Prozent sind im Besitz der USA und Russlands. UNODA, das Büro der Vereinten Nationen für Abrüstungsfragen, hat ein jährliches Budget von 10 Millionen US Dollar. Das ist weniger als die Summe, die weltweit stündlich für Atomwaffen ausgegeben wird. Von Anne Balzer.
Im Juli 2017 wurde mit dem UN-Vertrag zum Verbot von Atomwaffen das Ziel der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) erreicht. 122 Staaten haben in New York für die Annahme eines Verbotsvertrages gestimmt. Der Vertrag verbietet unter anderem Herstellung, Weitergabe, Stationierung und Einsatz von Atomwaffen sowie die Drohung mit ihrem Einsatz. Erstmals ist eine Entschädigung für Opfer von Atomwaffeneinsätzen und Tests vorgesehen. Außerdem erkennt der Vertrag die besonderen Folgen von Atomwaffen(tests) auf Mädchen und Frauen sowie auf indigene Völker, auf deren abgelegenen Territorien oftmals Tests durchgeführt wurden, an. Für die „Bemühungen, Aufmerksamkeit auf die katastrophalen humanitären Konsequenzen zu lenken und die bahnbrechenden Bemühungen zum Abschluss eines vertraglichen Verbots von Nuklearwaffen“ wurde ICAN 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Problem gelöst?
Nein, die Arbeit geht weiter. ICAN wird zwar seit der Verleihung des Friedensnobelpreises auch in Deutschland öffentlich als Akteur mit Fachwissen und Rückhalt wahrgenommen. Doch Deutschland hatte sich wie fast alle Mitglieder der NATO nicht an den Verhandlungen zum Verbotsvertrag beteiligt und ist bis jetzt nicht beigetreten. Der Vertrag wäre sinnlos, solange die Atomwaffenstaaten nicht mit am Tisch sitzen, der Verbotsvertrag würde den Nichtverbreitungsvertrag, Grundpfeiler der nuklearen Ordnung, untergraben, argumentiert die Bundesregierung. Doch warum können nicht 122 Staaten, die sich bereits für eine Politik ohne Atomwaffen entschieden haben und diese Waffen als Sicherheitsrisiko sehen, die Initiative ergreifen? Auch die Ächtung anderer Waffensysteme, beispielsweise Landminen (1997) und Streumunition (2008), wurde zunächst von den nicht-besitzenden Staaten vorangetrieben.
Außerdem waren die Verhandlungen zum Atomwaffenverbotsvertrag für alle Staaten offen. Der Vertrag sieht Verfahren zum Beitritt aktueller Atomwaffenstaaten vor und nimmt Bezug zu bereits bestehenden Sicherheitsabkommen und Verträgen. Immerhin hätte die Bundesregierung als Beobachter an den Verhandlungen teilnehmen können – auch das wäre ein Signal an die Mehrheit der Staatengemeinschaft gewesen. Das totale Fernbleiben signalisiert jedoch: Wir halten an einem Waffensystem fest, dass die Machtverhältnisse aus dem letzten Jahrhundert manifestiert, wir befürworten die Stationierung der US-Atomwaffen in Deutschland und die Abschreckungspolitik, die nichts anderes bedeutet, als mit der Vernichtung von Städten, Menschen und Lebensgrundlage zu drohen – über Jahrzehnte und mit global nicht abschätzbaren Folgen.
In mehreren europäischen NATO-Staaten sind US-Atomwaffen stationiert, unter anderem in Belgien, Deutschland, Italien und den Niederlanden. Die Menschen in diesen Staaten befürworten laut einer aktuellen Umfrage (YouGov) mehrheitlich den Abzug der Waffen. In Deutschland sprechen sich über 70 Prozent der Befragten für den Abzug der US-Bomben und zudem für den Beitritt der Bundesregierung zum Atomwaffenverbot aus.
Warum sind diese Einstellungen kaum sichtbar?
Um einen Politikwandel zu erreichen, müssen die Stimmen lauter werden. Darum bemüht sich ICAN. Wir sprechen mit Politiker_innen auf öffentlichen Veranstaltungen, schreiben Stellungnahmen, organisieren Filmabende und Workshops, wir gehen an Schulen und berichten über unser erfolgreiches zivilgesellschaftliches Engagement, wir geben Anregungen, das Thema im Unterricht zu behandeln. Atomwaffen sind nicht mehr die Antwort auf die multipolare Welt des 21. Jahrhunderts. Unsere Generation geht nach dem Abitur für ein freiwilliges soziales Jahr nach Indien, studiert in den USA und reist in den Ferien durch Lateinamerika. Es haben sich internationale Organisationen zur Prävention und Lösung von Konflikten entwickelt – die Welt ist nicht mehr schwarz und weiß, nicht mehr nur Freund oder Feind. Dennoch sind die Atomwaffen nicht nur Relikte aus dem Kalten Krieg. Noch immer bedeuten Atomwaffen für einige Staaten Macht und Prestige. Das stellen ICAN und der Verbotsvertrag in Frage.
Man nimmt an, es seien Waffen aus der Vergangenheit, aber sie sind immer noch Teil unserer Realität
Clare Conboy, ICAN Campaignerin in Großbritannien, sagt an ihrer Universität: „Ich wusste nichts über die Gefahr durch Atomwaffen, sie waren nicht präsent, man ist nicht mit ihnen aufgewachsen wie unsere Eltern. Das ist ein Problem, denn es führt zu einem Mangel an Aufmerksamkeit und Verständnis für die Problematik dieser Waffen in unserer Generation. Man nimmt an, es seien Waffen aus der Vergangenheit, aber sie sind immer noch Teil unserer Realität - egal ob wir es wissen oder nicht. Deswegen müssen wir mit anderen Menschen über das Thema reden. (…) Wir können unsere Sicherheit nicht dem Glück überlassen.“ Die Risiken für einen Krieg mit Nuklearwaffen sind heute durch Cyberangriffe, Terrorismus und fragile Staaten höher denn je. Erst im Januar 2018, als sich die verbale Eskalation zwischen Nordkorea und den USA zuspitzte, gab es auf Hawaii einen Fehlalarm. 45 verstörende Minuten dachten die Bewohner_ innen, es drohe ein nuklearer Angriff.
Der Atomwaffenverbotsvertrag stellt die Legitimität von Atomwaffen in Frage. Er ächtet diese Waffengattung, er verbietet sie auf Grundlage des humanitären Völkerrechts. Damit ist keine Atomwaffe abgerüstet, aber es ist der erste Schritt. Die Bundesregierung verweigert diesen Schritt derzeit immer noch. Obwohl Deutschland dem Vertrag noch nicht beigetreten ist, beginnt er Wirkungskraft zu entwickeln. Kürzlich hat die Deutsche Bank ihre Richtlinie zu Investitionen in Atomwaffen geändert. Ähnliche Entwicklungen zeigen sich in anderen europäischen Ländern – so beendeten der norwegische Regierungsfonds und der niederländische Rentenfonds ihre Investitionen in Atomwaffen.
ICAN setzt sich weiterhin auf Workshops, Tagungen, Festivals, in Universitäten und Schulen, vor der Mensa und auf der Straße für das Atomwaffenverbot ein. Dieser Einsatz lebt von dem Engagement junger Leute, die die Politik und die Welt, in der wir leben, aktiv mitgestalten wollen. Wer ICAN Botschafter_in werden möchte, eine Hochschulgruppe gründen oder mehr zum Thema erfahren will, kann sich auf unserer Webseite www.icanw.de umschauen.
Wer ist ICAN?
Die internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) setzt sich seit 10 Jahren für die Ächtung und Abschaffung der verheerendsten aller Massenvernichtungswaffen ein. 2014 wurde die deutsche Sektion als Mitglied des internationalen Bündnisses von über 450 Partnerorganisationen in mehr als 100 Ländern gegründet. 2017 wurde das globale Netzwerk für die Mitwirkung am UN-Vertrag zum Verbot von Atomwaffen mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. www.icanw.de
Anne Balzer hat Politikwissenschaften in Leipzig, Berlin und Istanbul studiert. Seit Frühjahr 2017 arbeitet sie bei ICAN und ist zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit und für Bildungsveranstaltungen.