Der Putsch in Niger und die afrikanische Selbstbestimmung

Illiassou Adamou von der EIRENE-Partner- organisation ASV mit Kollege in Niger bei der Inspektion eines rekultivierten Hirsefeldes

Der jüngste Sahel-Putsch in Niger hat die Weltöffentlichkeit bewegt. Der demokratisch gewählte Präsident Bazoum wird von seinen ehemaligen Weggefährten in der Armeeführung entmachtet und das Volk feiert, zumindest teilweise, die Aufständischen. Der stellvertretende Vorstandsvorsitzende von EIRENE und Sahel-Experte Tahirou Sy ordnet im Interview die jüngsten Ereignisse historisch ein und gibt einen Ausblick, worauf zivile Friedensarbeit in der jetzigen Situation achten muss.

Tahirou, du arbeitest seit vielen Jahren mit EIRENE für Frieden, was verbindet dich besonders mit der Sahelregion?

Tahirou: Meine Mutter stammt aus Niger und mein Vater ist aus Mali, ich bin zwischen den beiden Kulturen aufgewachsen. Meine Zusammenarbeit mit EIRENE seit 2007 hat es mir ermöglicht, u. a. in Niger, Mali und Burkina Faso zu arbeiten. Aktuell bin ich stellvertretender Vorsitzender des Vereins EIRENE und im Vorstand zuständig für Sahel-Themen. Momentan erleben wir eine Reihe von Putschen in Mali, Burkina Faso und jüngst in Niger.

Was sind deiner Meinung nach die Gründe für die Machtübernahme der Militärs und warum erhalten sie Unterstützung aus Teilen der Bevölkerung?

Tahirou: Die Putsche im Sahel würde ich als neuen historischen Zyklus der Gewalt bezeichnen. Das Militär begründet sein Vorgehen in allen drei Ländern gleich: Schlechte Sicherheitslage aufgrund der terroristischen Gruppen und politischer Klientelismus der abgesetzten Regierungen, aber meiner Meinung nach liegen die Gründe tiefer. Alle diese Militärjuntas waren regierungsnah und trafen gemeinsam mit den Herrschenden sicherheitsrelevante Entscheidungen, von denen sie selbst profitierten. Dass es trotz  dieser Verstrickungen zur Machtübernahme in den drei Ländern kam, hat andere Gründe. Die Militärführer in Mali, Niger und Burkina Faso sahen ihre Regierungen dem Diktat Frankreichs unterworfen. Und sie glaubten, dass die Präsenz des französischen Militärs ihre Handlungsspielräume im Kampf gegen die Terroristen beeinträchtigte.

Die Bevölkerung unterstützt die Putschisten, weil sie von ihren Lebensbedingungen frustriert ist. Die Menschen im Sahel stehen vor drei großen Herausforderungen: Die Klimakrise verschlechtert die Ernährungssituation, die Bevölkerung wächst gleichzeitig rasant und die Regierungen haben es seit der Unabhängigkeit ihrer Länder nicht geschafft, effiziente Institutionen aufzubauen. Die Kombination dieser drei Herausforderungen ist gefährlich, denn immer mehr Menschen konkurrieren um immer weniger  Ressourcen, die auch noch schlecht verwaltet werden. So sieht der Nährboden für militanten Extremismus aus.

Wenn man den spezifischen Fall des Niger betrachtet, der in seiner Geschichte bereits vier andere Militärputsche erlebte, kommt die Frage auf, warum gerade der aktuelle so eine hohe Zustimmung erfährt.

Tahirou: Es stimmt, dass die Bevölkerung vor allem in der Hauptstadt Niamey und in einigen Regionen den Putsch unterstützt hat. Das Verhalten Frankreichs und die Androhung einer militärischen Intervention durch die Staatengemeinschaft ECOWAS in den Wochen nach dem Putsch haben eher noch dazu geführt, dass sich mehr Nigrer_ innen hinter die Putschisten gestellt haben.

Die Putschisten begründen die Entmachtung der vorherigen Regierungen damit, dass diese erfolglos im Kampf gegen terroristische Gruppen waren. Haben die Putschisten denn bessere Ideen, wie sie die Sicherheit der Menschen gerade in ländlichen Gebieten wieder herstellen können?

Tahirou: Im Kampf gegen terroristische Gruppen hatte der abgesetzte Präsident Mohamed Bazoum einen zweigleisigen Ansatz: Verhandlungen mit den Terroristenführern und gleichzeitig Bekämpfung der Gruppen mit Hilfe der französischen Armee. Gerade diese militärische Kooperation hat der Militärführung in Niger nicht gepasst, da sie aus ihrer Entscheidungsgewalt gedrängt wurde. Die Putschisten haben den Ansatz der Verhandlungen mit terroristischen Führern verworfen, gleichzeitig haben sie die militärische Kooperation mit Frankreich beendet. Es ist noch zu früh, um die Ergebnisse ihrer Strategien zu bewerten. Ich persönlich denke, dass man für einen effektiven Kampf  gegen den Terrorismus die anderen ECOWAS-Länder braucht und militärische Ansätze keinen langfristigen Erfolg haben werden.

Schulung von Radiojournalist_innen in konfliktsensibler Berichterstattung in Niger

Was kann die Zivilgesellschaft tun, um die aktuelle Situation zu bewältigen? Wie wird EIRENE seine Partnerorganisationen unterstützen?

Tahirou: In der aktuellen Situation muss die Zivilgesellschaft sehr sensibel agieren, da sie bereits instrumentalisiert und/oder eingeschüchtert wird. Ich bin positiv eingestellt, dass unsere Partnerorganisationen schon bald wieder ihr volles Potenzial für die Menschen in Niger entfalten werden. Unsere Partner leiden wie der Rest der Bevölkerung unter den Auswirkungen der ECOWAS-Sanktionen und der Einstellung von internationaler Hilfe. EIRENE wird gerade jetzt solidarisch die Arbeit für Gewaltfreiheit fortführen.
 

Tahirou Sy

Im Sahel wird aktuell viel von Selbstbestimmung gesprochen. Wie positioniert sich EIRENE in dieser Diskussion, die vor allem in Staaten um sich greift, die ehemals französische Kolonien waren?

Tahirou: In ganz Afrika gibt es tatsächlich einen Impuls für mehr Selbstbestimmung. Besonders im Sahel erleben wir, dass die Verbindungen zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien infrage gestellt werden. Wir als EIRENE müssen akzeptieren, dass diese Diskussion real ist, und dass folgende Fragen gestellt werden müssen: Warum sind die Sahel-Länder 60 Jahre nach ihrer Unabhängigkeit immer noch so arm? Und: Warum hat während der zehnjährigen Militärpräsenz Frankreichs der Terrorismus jeden Tag im Sahel mehr an Raum gewonnen? EIRENE wird weiter den Dialog in der Zivilgesellschaft des Sahels fördern, damit passende Lösungen gefunden werden. Meiner Erfahrung nach liegen die Lösungen für Krisen in Afrika in zwischenmenschlichen Interaktionen. Unsere Friedensförderung setzt genau dort an, bei Jugendlichen, Frauenverbänden, Bildungsinstitutionen und landwirtschaftlichen Vereinigungen.

Das Interview führte Stefan Heiß.

Das Interview stammt aus dem EIRENE Magazin #3 2023, das Sie hier kostenlos runterladen können.

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Seit 1973 engagiert sich EIRENE in Niger für Selbstbestimmung. Wir haben viele Nigrer_innen in gewaltfreier Konfliktbearbeitung qualifiziert. Deren Netzwerk ist eine gefragte Anlaufstelle für Mediation in gesellschaftlichtlichen Konflikten.

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