Für mehr Beschäftigung mit dem Thema Rassismus bei EIRENE

Pressegespräch 2006: Lange vor dem RKVP fordert EIRENE Veränderungen in Konzeption und Praxis der Entwicklungspolitik

Anthea Bethge schaut aus der Perspektive der Geschäftsführerin (von 2012 bis 2024) auf den Rassismuskritischen Veränderungsprozess (RKVP). Sie beschreibt den Prozess als Organisationsentfaltung. Im besten Fall blühte dabei in einer erneuerten Praxis auf, was bereits in EIRENEs Gründungsvision steckte. Doch rückblickend sagt sie, es gab auch winterliche Phasen mit Zweifeln und Fehleinschätzungen.

Am 4. April 2013 erhielt EIRENE einen Brief von vier Vereinsmitgliedern, ehemalige Freiwillige, die sich im Verein engagierten. Der Betreff des Briefs: „Für mehr Beschäftigung mit dem Thema Rassismus bei EIRENE.“ Dieser Brief katapultierte das Thema Rassismus ganz oben auf die Tagesordnung des Vorstands und der Geschäftsstelle. Er gab dabei sogar schon den wichtigsten Charakter des späteren RKVP vor: Es geht nicht um den Rassismus der Anderen, es geht um eine selbstkritische Reflexion. Wer sind wir? Wen sprechen wir an? Wen schließen wir aus? Wie gestalten wir unsere Programme, um Rassismus entgegenzutreten?

ANTIRASSISTISCHES MAINSTREAMING ODER RASSISMUSKRITISCHE VERÄNDERUNG?

Die zwei Jahre nach Erhalt des Briefes waren gefüllt von intensiven vereinsinternen Diskussionen. Das Ergebnis: Wir hielten einen antirassistischen Mainstreaming-Prozess für notwendig und haben eine externe Beratung dafür gesucht. An der Ausschreibung waren alle Mitarbeitenden der Geschäftsstelle und die Vorstandsmitglieder beteiligt. Niemand sollte ungehört bleiben.

Ende 2015 war es dann so weit: Das multiperspektivische Beratungs-Team Nadine Golly und Timo Kiesel traf zum ersten Mal die Steuerungsgruppe, die sich aus Mitarbeitenden aller Bereiche der Geschäftsstelle, Vorstandsmitgliedern und Vereinsmitgliedern zusammensetzte. Wir trafen uns monatlich und eine Einbeziehungs-Lücke entstand zwischen der Steuerungsgruppe und den anderen Mitarbeitenden. Gut, dass letztere dies laut beklagten! So konnten wir das ändern und die monatlichen „offenen Runden“ waren geboren, bis die Coronapandemie Präsenztreffen ein Ende setzte.

Doch: War „Mainstreaming“ eigentlich das richtige Konzept? Ja und nein. Die Beschäftigung mit dem Thema Rassismus ist eine Querschnittsaufgabe für alle Aspekte der EIRENE-Arbeit. Anlässe dafür gibt es genug: Zum Beispiel müssen wir uns mit den Mechanismen des Rassismus beschäftigen, weil ugandische Freiwillige in Deutschland rassistisch angesprochen werden. Wenn wir uns für Klimagerechtigkeit einsetzen, dann nicht nur für unsere Enkeltöchter, sondern auch für unsere Mütter im Sahel. Doch „Mainstreaming“ ist ein zu schwacher Begriff für das, was wir uns vorgenommen haben. Es ging und geht um viel mehr.

EIRENE Postkarte

Nadine Golly fragte uns, ob wir statt Mainstreaming  bereit wären für einen „Veränderungsprozess“. Die Steuerungsgruppe hatte schon kleine Veränderungen diskutiert. Wir waren uns aber bewusst, dass große Veränderungen sehr viel mehr als ein paar Steuerungsgruppen-Sitzungen und womöglich Vorstandsbeschlüsse brauchen würden. Viel mehr multiperspektivische Konsultation und viel mehr Geld. Deshalb wandten sich der Prozesskoordinator Jürgen Kraus und der Vorstand 2017 mit dem Antrag auf einen
fünfjährigen rassismuskritischen Veränderungsprozess an die Mitgliederversammlung. Das Thema, das uns Mitglieder in ihrem Brief auf die Tagesordnung gesetzt hatten, kam also nach vier Jahren zurück an sie. Der Beschluss der Mitgliederversammlung 2017 ist legendär.

VERÄNDERUNGEN IN DER PERSONALPOLITIK

Als ich mich 2010 bei EIRENE bewarb, habe ich nicht gemerkt, dass das Auswahlteam aus vier weißen Personen bestand. Wohl bemerkt habe ich, dass es aus zwei Frauen und zwei Männern bestand. Das vermittelte mir den Eindruck, dass Männer und Frauen bei EIRENE gut zusammenarbeiten. Inzwischen sind 14 Jahre vergangen und der rassismuskritische Veränderungsprozess wirkt. Im Frühjahr 2023 ist es mir zum ersten Mal passiert, dass ich in einem vierköpfigen Auswahlteam die einzige white-passing Person war – und kurz danach ein zweites Mal. Die Veränderung kam und kommt langsam, doch sie kommt um zu bleiben.

Noch bevor sich die Mitgliederversammlung 2017 mit dem Antrag auf einen Veränderungsprozess befasste, gab es bereits die rassismuskritische Personalpolitik. Sabine Maier, die damalige Personalleiterin, hatte ein Konzept in die Steuerungsgruppe gebracht. Das Besondere war und ist, dass es weder harte noch weiche Quoten vorsieht. 
Es sieht nur vor, dass Menschen mit Rassismuserfahrung explizit zur Bewerbung eingeladen werden. Ich hatte mir nicht vorstellen können, dass das reicht. Wie gut, dass ich da falsch lag! Die neuen Passagen in den Ausschreibungen waren zunächst sehr umstritten, wurden mehrfach sprachlich überarbeitet. Dass EIRENE schnell eine sehr diverse Mitarbeitendenschaft gewonnen hat, gehört zu den sichtbarsten Veränderungen des RKVP. Im Jahr 2017 wurde Manssour Monsef neuer Personalleiter von EIRENE und entwickelte die rassismuskritische Personalpolitik weiter: Wir haben im April 2024 32 Mitarbeitende mit 15 Erstsprachen. Auch der Vorstand wurde diverser und hat seit 2019 der jeweiligen Findungskommission zur Vorstandswahl rassismuskritische Kompetenzen und diverse Perspektiven als Kriterium mitgegeben.

Diverse EIRENE-Belegschaft 2022

Immer wieder werfen wir als Mitarbeitende auch einen Blick auf das Einheitsgehaltssystem von EIRENE. Zumeist sind wir stolz darauf, weil über Jahrzehnte allen Mitarbeitenden vergleichbare Lebensstandards ermöglicht wurden. Es ist in der Tat immun gegen individuellen Rassismus, da keine individuellen Unterschiede gemacht werden (können!). „Sorgt das für Gleichbehandlung oder Gleichstellung?“, fragte die damalige Prozesskoordinatorin Tshiamo Petersen. „Wird es den unterschiedlichen Bedarfen der immer diverser werdenden Mitgliederschaft gerecht?“, fragte Manssour Monsef. „Sind wir als Gemeinschaft der Mitarbeitenden bereit, Bedarfe von Mitarbeitenden anzuerkennen, die eine besondere Migrationslast tragen? Sind wir bereit, deshalb finanzielle Unterschiede zu machen?“, fragte zuletzt der Betriebsrat die Mitarbeitenden.

FRAGEND SCHREITEN WIR VORAN

Der rassismuskritische Veränderungsprozess bei EIRENE erfordert Kraft und einen langen Atem. Wir müssen mit Verletzungen und Schuld umgehen. Als Geschäftsführerin habe ich Personalverantwortung. Wie gestalte ich diese eirenisch? Geht das überhaupt, wenn eine so große Ungerechtigkeit und Gewalt wie Rassismus im Raum steht, ja zwischen uns steht? Einmal hat mich eine Kolleg_in mit Rassismuserfahrung gefragt: „Welche Privilegien hast du eigentlich seit Beginn des RKVP abgelegt?“ Sie blieb liebevoll bei mir, als mir keine einfielen und ich darüber traurig wurde. Tief berührt hat mich immer wieder, dass Kolleg_innen, die rassistische Verletzungen erleben, eines zuerst suchen: Versöhnung. Es besteht gar keine Frage: Sie sind EIRENE. Und sie sind es, die EIRENE als safer space gestalten. Das ist nötig, denn es gelingt uns nicht, Rassismus aus dem EIRENE-Haus fernzuhalten. Vorfälle tun dabei besonders weh, da wir so lange schon miteinander rassismuskritisch unterwegs sind. Ich bin sehr dankbar allen, die verletzten Kolleg_innen nachgegangen sind, Schmerzen mit ausgehalten haben und allen, die Worte der Entschuldigung gefunden haben.

Der RKVP ist für mich ein Organisationsentfaltungs-prozess. „Fragend schreiten wir voran“, beschreibt Vorstandsvorsitzender Hauke Steg das Vorgehen immer wieder. „Wir gehen auf Spiralwegen, Fortschritt wird nur im Rückblick deutlich", sagt Ombudsfrau Carmen Ibáñez. Und dabei streben wir gar nicht neuen Ziele zu, sondern nähern uns dem, was schon in unserer Gründungsvision von 1959 steht. „Bei EIRENE ist kein Platz für Nationalismus,  Rassismus und religiöse Grenzen.“


von Anthea Bethge

Anthea Bethge
Dr. Anthea Bethge

EIRENE Magazin

Gemeinsam Rassismus überwinden!

Kooperationen und Entwicklungszusammenarbeit zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden sind bis heute durch postkoloniale Strukturen und Rassismus geprägt. EIRENE als Friedensdienst agiert in diesem Bereich. Deshalb ist der Verein seit über 10 Jahren in einem Veränderungsprozess um Rassismus in der Friedensarbeit zu bekämpfen. In der Magazin-Sonderausgabe berichten wir ehrlich und authentisch über Erfolge und Schmerzerfahrungen auf diesem Weg.