Gewaltfreier Umgang mit der Natur

Naturerfahrungen in Costa Rica haben Tine Jordan geprägt. Nach ihrem Freiwilligendienst entschied sie sich für ein Studium der Biologie. Heute verortet sie in ihrem Denken den Menschen in die Natur und nicht darüber. In ihrem Essay plädiert sie für einen Paradigmenwechsel: Die Natur kann auch ohne Mensch, andersherum gilt das nicht.

Rauschende Flüsse, kilometerweite Gletscher, schattige, kühlende Wälder, zartes, weiches Moos, 100-jährige Bäume, krabbelnde, fliegende, schwimmende, tauchende Tiere von millimeterklein bis tonnenschwer. All das ist Leben. All das ist Wachstum, Entwicklung, Fruchtbarkeit und Interaktion ohne menschliches Zutun. All das ist Natur, und wir sind ein Teil davon.

Das Leben auf unserem Planeten steht vor einem Kollaps. In einer erdgeschichtlich nie zuvor gekannten Geschwindigkeit und Dimension verschmutzt, verbrennt und zerstört der Mensch ökologische Gefüge und bringt damit immer mehr Leben zum Erlöschen. Wir müssen die Liebe und Achtung gegenüber dem Leben auf unserem Planeten wieder empfinden und daraus die Kraft schöpfen, um zu einer nachhaltigen und ressourcenschonenden Lebensweise zu finden.

Was bedeutet mir die Natur?

Es ist 6:20 Uhr in einem kleinen Dorf in den Bergen in Costa Ricas. Die Bewohner_innen des Dorfes Pejibaye sind schon wach. Nach einem Plausch mit meiner Gastmutter Ana, einem schwarzen Cafecito und einer leckeren Maistortilla mit Ei mache ich mich auf den Weg zu meinem Arbeitsplatz. Die frische, feuchte Luft und der reißende, glasklare Fluss, den ich mit meinem Fahrrad überquere, erleichtern die körperliche Anstrengung, die mich jeden Morgen auf meinem 5km langen Bergaufstieg an meine körperlichen Grenzen bringt. Oben angekommen ist die Luft noch reiner und frischer. Eine meiner eindrucksvollsten Naturwahrnehmungen ereignete sich genau an so einem Tag. Ich hatte die Aufgabe, durch den Wald zu wandern, um bestimmte Samen von Bäumen zu suchen. Nachdem ich einige Samen gefunden hatte, kehrte ich an eine Stelle zurück, die ich zuvor schon einmal passiert hatte. Der ganze Boden war jedoch plötzlich schwarz. Innerhalb von weniger als einer Stunde hatte sich ein Ameisenvolk auf dem Weg ausgebreitet, auf einer Fläche, groß wie ein ganzes Wohnzimmer. Ich habe mich erschrocken, bin sofort in die Knie gegangen und musste inne halten. Je länger ich diese Fläche beobachtete, desto faszinierter war ich. Das ganze Gekrabbel hatte Struktur, es gab Wege, und ich konnte Muster erkennen. Es waren so unfassbar viele Ameisen, ich hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Nach einer halben Stunde Beobachtung schlich ich mich zurück - fasziniert, dankbar und verändert.

Interesse an einem Freiwilligendienst in Costa Rica? Hier gibts mehr Infos.

Die Suche nach Balance

Das Leben auf unserer Erde ist abgestimmt und organisiert. Jede Art in einem Ökosystem erfüllt eine Funktion, und je diverser ein Ökosystem agiert, desto stabiler und geschützter erweist sich das Netzwerk vor Katastrophen. Die Entwicklung von uns Menschen war nur möglich, da die Diversität und die natürliche Balance zwischen den Arten stabile Umweltbedingungen ermöglichten. Und jetzt stellen wir fest - noch nie hat eine einzelne Spezies auf dieser Erde einen so dynamischen und nicht umkehrbaren Einfluss auf die ökologischen Gefüge genommen wie wir Menschen!

Wir brauchen die Natur, wir sind auf sie angewiesen. Sie reinigt unsere Luft und unser Wasser, sie ernährt uns, sie schenkt uns Brenn- und Baustoff, sie schützt uns vor Krankheiten und reguliert das Klima. Der Begriff Naturschutz meint genau genommen Lebensraumschutz für all das Leben auf diesem Planeten. Wir stehen nicht über den Tier- und Pflanzen-, Bakterien- und Pilzarten, sondern wir sind Teil eines Gefüges. Wir müssen diese Position wieder erkennen und unseren Verstand dafür nutzen, eine Lebensweise zu etablieren, die in einer Balance zu den natürlichen Ressourcen unserer Umwelt steht.

Sollte die Atmosphäre und das Meer immer wärmer, die Wälder, Wiesen und Flüsse immer weiter zerstört und verschmutzt werden, dann wird es für den Menschen und vielen weitere Arten nicht mehr möglich sein, auf diesem Planeten zu leben. Ein solches massives Verschwinden von vielen Arten gab es schon mehrfach in der Vergangenheit unserer Erde. Es wird sich aber immer wieder neues Leben entwickeln können. Es ist nur die Frage, ob wir Menschen noch Teil von diesem Leben sein werden.

Ein Spaziergang durch einen kühlenden Wald im trockenen Sommer, der Ausblick von einem Gipfel über ein fruchtbares, nebliges Tal oder das Beobachten einer fleißigen Schwebfliege, die durch das Bestäuben der Blütenpflanzen eine so wichtige ökologische Rolle übernimmt, hat einen direkten Wert für unser Wohlbefinden. Ich glaube daran, dass ein Wandel möglich ist. Wir müssen uns nur unsere Position in der Natur wieder verdeutlichen. Wir brauchen sie, und wir sollten sie jeden Tag schätzen, achten und schützen.

von Tine Jordan, Freiwillige bei La Marta 2016/2017