Rede zum Volkstrauertag 2024 von Ali Al-Nasani
Am 17. November hielt der EIRENE-Geschäftsführer Ali Al-Nasani zum Volkstrauertag folgende Rede auf dem Gladbacher Friedhof in Neuwied:
Wir haben uns heute hier versammelt, um der Opfer von Krieg und Gewalt zu gedenken. Wir blicken zurück in Trauer, aber blicken auch in Sorge auf die Gegenwart. Wir leben in einer Zeit, in der Krieg wieder in Europa angekommen ist und Menschen auf der Flucht nach Deutschland kommen, um hier Schutz zu suchen. Diesen Schutz sollten sie auch finden, so wie deutsche Flüchtlinge während der Weltkriege und auf der Flucht vor dem Holocaust Schutz in anderen Ländern fanden.
Die Nachrichten aus Nahost führen uns das Leid des Krieges deutlich vor Augen und machen uns bewusst, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit ist, sondern durch Friedensarbeit immer neu gestärkt werden muss.
Verehrte Gäste, vielleicht haben Sie auch wie ich in der vergangenen Woche die Nachricht gehört, dass in Kassel eine Fliegerbombe aus dem 2. Weltkrieg entschärft werden musste. Der Kampfmittelräumdienst des Landes Rheinland-Pfalz entschärft mehr als 70 Jahre nach Ende des Krieges immer noch jährlich 30 Tonnen nicht explodierter Bomben, Granaten, Munition. Die Folgen des Krieges sind noch bis heute spürbar.
Heute stehe ich hier als Vertreter der Neuwieder Friedensorganisation EIRENE und möchte über ein Thema sprechen, das zu oft übersehen wird. Krieg nicht nur ein physischer Konflikt; er ist ein tiefgreifendes, traumatisierendes Erlebnis, das das Leben der Überlebenden und ihrer Nachkommen für Generationen prägt. Es muss unsere Aufgabe sein, diese Auswirkungen zu verstehen und das Bewusstsein dafür zu schärfen.
Die unmittelbaren Folgen eines Krieges sind oft verheerend. Soldatinnen und Soldaten sind häufig extremen Stresssituationen ausgesetzt. Die Erfahrungen von Gewalt, Verlust und Angst können zu posttraumatischen Belastungsstörungen, Angststörungen und Depressionen führen. Diese psychischen Erkrankungen betreffen nicht nur die Soldatinnen und Soldaten selbst, sondern auch die Zivilbevölkerung, die in Kriegsgebieten lebt. Menschen, die Bombenangriffe, Flucht und den Verlust von Angehörigen erleben, sind ebenso von tiefen psychischen Traumata betroffen.
Studien zeigen, dass die Rate von Traumata bei Veteranen und Überlebenden in Kriegsgebieten signifikant höher ist als in der allgemeinen Bevölkerung. Doch diese Zahlen sind nur die Spitze des Eisbergs. Viele Überlebende suchen keine Hilfe aus Angst vor Stigmatisierung oder weil sie glauben, dass ihre Erfahrungen nicht ernst genommen werden. Diese Menschen haben den Krieg physisch überlebt, tragen aber schwere psychische Verletzungen mit sich.
Die langfristigen Auswirkungen eines Krieges auf die mentale Gesundheit sind besorgniserregend. Wir wissen gerade aus Studien über den Holocaust, dass Traumata von Generation zu Generation weitergegeben werden. Kinder von Überlebenden erleben oft indirekte, aber tiefgreifende Auswirkungen. Diese Kinder wachsen in einer Umgebung auf, die von Angst, Unsicherheit und emotionaler Abwesenheit geprägt ist. Eltern, die selbst unter den Folgen des Krieges leiden, sind häufig nicht in der Lage, ihren Kindern die notwendige emotionale Unterstützung zu bieten. Dies kann zu einer Vielzahl von Problemen führen, darunter Verhaltensauffälligkeiten, Schulversagen und anhaltende psychische Erkrankungen.
Forschungen belegen, dass Kinder, die in Kriegsgebieten aufwachsen oder deren Eltern traumatisiert sind, ein höheres Risiko für die Entwicklung von Angststörungen und Depressionen haben. Diese Kaskade von psychischen Problemen wird oft als „intergenerationale Traumatisierung“ bezeichnet und verdeutlicht, dass die Folgen von Krieg weit über die unmittelbaren Überlebenden hinausgehen.
Die Gesellschaft spielt eine entscheidende Rolle im Heilungsprozess der Überlebenden und ihrer Familien. Ein unterstützendes Umfeld kann den Unterschied zwischen Isolation und Gemeinschaft ausmachen. Der Zugang zu psychologischer Hilfe und therapeutischen Angeboten ist unerlässlich. Im besten Fall entwickeln Staaten und Organisationen Programme, die sich auf die psychische Gesundheit von Kriegsveteranen und Zivilisten konzentrieren, die unter den Folgen leiden.
Ein Beispiel dafür ist die Implementierung von Traumatherapien, die speziell auf die Bedürfnisse von Kriegserfahrenen zugeschnitten sind. Gruppenangebote, in denen Überlebende ihre Erfahrungen teilen können, schaffen ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Verständnisses. Solche Programme können nicht nur heilsam sein, sondern auch die gesellschaftliche Stigmatisierung von kriegsbedingten psychischen Erkrankungen abbauen.
Darüber hinaus ist es wichtig, dass die Gesellschaft als Ganzes sich mit der Geschichte und den Folgen von Kriegen auseinandersetzt, und der heutige Volkstrauertag kann einen Beitrag dazu leisten. Dokumentationen, Filme und Literatur können Verständnis für die Erfahrungen von Überlebenden vertiefen und Empathie zu fördern. Wenn wir die Geschichten derer hören, die unter den Folgen von Krieg leiden, wenn wir uns erinnern und nicht vergessen, können wir eine bessere Grundlage für eine unterstützende Gemeinschaft und Frieden schaffen. Denn wenn wir uns die Zeit nehmen, die Geschichten von Überlebenden zu hören und zu verstehen, schaffen wir Raum für Heilung. Empathie kann Brücken bauen, wo zuvor Mauern standen. Wenn wir einander unterstützen und Verständnis zeigen, können wir dazu beitragen, den Teufelskreis von Krieg, Leid und Trauma zu durchbrechen. Frieden ist ohne Empathie nicht möglich.
Indem wir uns mit den psychischen Auswirkungen von Krieg auseinandersetzen, können wir nicht nur den Überlebenden helfen, sondern auch zukünftigen Generationen einen Weg zu einem gesünderen und friedlicheren Leben bieten.
Lassen Sie uns gerade vor dem Hintergrund des heutigen Volkstrauertages gemeinsam daran arbeiten, ein Bewusstsein für diese Themen zu schaffen und dafür zu sorgen, dass die Stimmen der Überlebenden gehört werden. Nur so können wir eine Gesellschaft aufbauen, die Heilung und Verständnis fördert und den Schrecken des Krieges in eine Chance für Frieden und Hoffnung verwandelt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.