Versöhnung setzt Begegnung voraus
„Versöhnung“ ist konstitutiv für meine Existenz. Ich bin – im wahrsten Sinne des Wortes – ein Kind der französisch-deutschen Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg: als Sohn einer französischen Mutter und eines deutschen Vaters im Jahr des Elysée-Vertrags geboren, mit dem die Regierungen Frankreichs und der BRD 1963 nach jahrzehntelanger „Erbfeindschaft“ den Grundstein für eine engere politische Kooperation legten.
Es gäbe mich also nicht ohne die Bereitschaft vieler Menschen in beiden Ländern, nach mehreren furchtbaren Kriegen aufeinander zuzugehen und die politisch lange tradierte Feindschaft aktiv zu überwinden. Das muss insbesondere für meinen französischen Großvater eine enorme Herausforderung gewesen sein: Er tat sich zunächst wohl sehr schwer, die Liaison seiner ältesten Tochter mit einem Deutschen gutzuheißen – keine 20 Jahre nachdem deutsche Truppen aus seiner Heimat zurückgedrängt worden waren.
Auf der Suche nach Gründen für mein Erschrecken und Entsetzen über Kriege wie in der Ukraine oder Israel/ Palästina stoße ich regelmäßig auf meine biografischen Wurzeln. „Entfeindung“ ist mir sowohl als persönliches als auch politisches Anliegen in die Wiege gelegt worden.
Für mich ist jeder Tag Krieg ein Tag Krieg zu viel, denn er verursacht unendliches Leid und maßlose Zerstörungen, die Jahre oder sogar Jahrzehnte nachwirken – in einzelnen Menschen ebenso wie auf politischer Ebene. Das ist aus meiner Sicht durch nichts zu rechtfertigen. Deshalb muss und kann es nur darum gehen, in jedem Fall Krieg möglichst rasch zu beenden. Dies wird immer nur durch Verhandlungen geschehen können (ganz gleich, ob nach drei Monaten oder nach drei Jahren), aber nicht durch einen wie auch immer aussehenden Sieg einer der beteiligten Seiten.
Gewinnen kann einen Krieg in der Regel niemand – dafür sind die Verluste auf allen Seiten und Ebenen in aller Regel viel zu hoch. Und damit meine ich keineswegs nur die getöteten und verletzten Menschen sowie zerstörte Städte und Infrastruktur, sondern auch die beschädigten Seelen und Hirne. Das Gift des Denkens in Feindbildern und Kriegsszenarien ist schnell injiziert – und zieht Jahrzehnte mühsamer Verständigungs- und Versöhnungsarbeit nach sich …
Was braucht es, damit Verständigung und Versöhnung (vielleicht!) gelingen können? Es braucht mutige Menschen, die über Frontlinien hinweg aufeinander zugehen und trotz Verletzungen, Traumata und häufig tief sitzender Feindbilder Begegnung mit ‚den Anderen‘ von der Gegenseite wagen. Das ist – zumal in Zeiten eines Krieges oder anderer „heißer“ Konflikte – ungeheuer schwer und vielen geradezu unmöglich. Denn auf beiden Seiten setzt es die Bereitschaft und Fähigkeit voraus, eigene Ressentiments und meist auch Ängste zu überwinden. Und zusätzlich auf der Seite der „Opfer“ die Bereitschaft zur Vergebung, seitens der „Täter*innen“ den Willen und die Fähigkeit zu aufrichtiger Reue und ggf. zur Bitte um Verzeihung.
Das alles sind keine übermenschlichen Fähigkeiten, sie erscheinen aber in akuten Auseinandersetzungen und erst recht in Kriegen als solche. Denn sie erfordern erstens eine menschliche (innere) Größe, die nicht jedem gegeben ist, und zweitens Distanz zum Geschehen(en) – wenigstens zeitlich, oft auch räumlich –, um Prozesse etwa der Traumaverarbeitung mindestens begonnen zu haben. Allein der zweite Aspekt verdeutlicht, warum Versöhnung in der Regel nicht schon während akuter Konflikte oder (zu) kurz danach möglich ist.
WAS KÖNNTE ZU (MEHR) VERSTÄNDIGUNG UND VERSÖHNUNG VERHELFEN?
1. Seitens der Medien eine differenzierte und besonnene Darstellungsweise, die sich jeglichem Schwarz-Weiß-Denken widersetzt. Ein „konfliktsensitiver Journalismus“ ist dringend vonnöten; das entsprechende Theoriekonzept schreit geradezu nach mehr Journalist*Innen, die es praktizieren.
2. Darüber hinaus hilft (fast) immer reden – und zwar mit ALLEN, erst recht über (ideologische) Grenzen und Gräben hinweg. Aber reden nicht im üblich gewordenen
Duktus des „Zutextens“ und Rechthabens, sondern im Sinne eines wirklichen Dialogs, der sich auch für die Positionen der Gegenseite interessiert und ggf. von ihr
zu lernen bereit ist.
Das setzt die Fähigkeit und Bereitschaft voraus, zuzuhören. Zuhören halte ich für die Schlüsselkompetenz, wenn es um Verständigung und Versöhnung geht. Sie lässt sich prinzipiell auch erlernen und verbessern, wenn jemand dazu bereit ist. Insofern wünsche ich mir und der Welt mit ihren vielen Konflikten, dass in den nächsten Jahren die Zahl der Zuhörenden deutlich zunimmt – und die der (TV) Zuschauenden vielleicht entsprechend abnimmt!
Michael Steiner, Jg. 1963, Systemischer Coach für Persönlichkeitsentwicklung (Deutsche Gesellschaft für Coaching), Teamsupervisor, Krisen- und Gewaltberater für Männer. Seit 2002 freiberuflich Trainer bei „gewaltfrei handeln e.V.“: Leitung u.a. von Einführungen in die Gewaltfreie Kommunikation, von Grundkursen in konstruktiver Konfliktkultur sowie Aufbaukursen zur Aus- und Fortbildung von Fachkräften der Friedensarbeit.
https://www.steiner-coach.de/de/training/kommunikations-training