Wir müssen über Rassismus reden

+++Dieser Text ist die Einleitung zur Sonderausgabe des EIRENE Magazins "Gemeinsam Rassismus überwinden!" Das Magazin steht unten zum kostenlosen Download bereit+++
Rassismus ist eine Gesamtheit von Ideen und Praktiken, die alle Aspekte unserer Realität durchdringt – von der Politik bis zur Liebe. Er beeinflusst unsere Gedanken darüber, welchen Platz wir als Individuen in der Gesellschaft einnehmen und welchen Platz die anderen haben, wer vom Staat geschützt werden sollte und wer nicht, wer zum Bestimmen geboren ist und wer nur zum Arbeiten, bishin zu der Frage, wer schön und wer hässlich ist. Diese strukturelle Dimension des Rassismus ist die tiefgreifendste und auch die am schwierigsten anzuklagende, weil es keine individuelle Verantwortung für diese komplexe Gesamtheit gibt. Die Vorstellung, dass Menschen nur aufgrund ihrer Anstrengungen und ihres persönlichen Muts oder Talents das haben, was sie haben, oder dorthin gelangt sind, wo sie sind, bedeutet die Leugnung einer jahrhundertelangen Kolonialgeschichte. Denn das weiße Denken definiert in vielen Teilen der Welt weiterhin den Platz, den jeder von uns in der Gesellschaft einnimmt.
In 13 Ländern der EU hat der Rassismus laut einer Studie der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) zwischen 2016 und 2022 deutlich zugenommen. In der repräsentativen Studie wurden afrikanisch stämmige Menschen nach ihren Rassismuserfahrungen gefragt: Im Beobachtungszeitraum gab es einen Anstieg von 39 Prozent auf 45 Prozent. In Deutschland sind die Zahlen noch gravierender, so gaben hier 76 Prozent der Studienteilnehmer_innen an, dass sie Rassismuserfahrungen gemacht haben. Vielleicht ist es gerade deshalb auch heute noch ein Tabu, über Rassismus zu sprechen. Das zeigt sich oft, wenn ich in Workshops zum ersten Mal das Wort "Rassismus" in den Mund nehme: Einige Teilnehmer_innen schweigen, aber ihre Körpersprache verrät ihr Unbehagen, sie setzen sich aufrecht und sind angespannt. Andere schlagen vor, den Begriff nicht zu verwenden. "Sollten wir nicht besser von Diskriminierung sprechen?", fragen sie. Niemand möchte als Rassist_in bezeichnet werden. Und es gibt eine Körpersprache des Schmerzes oder der Wut bei denjenigen, die Rassismus erlebt haben. Ich bin mir bewusst, dass Rassismus ein unangenehmes Thema ist und dass wir fast instinktiv versuchen, es zu vermeiden.

Im Jahr 2017 hat EIRENE den Rassismuskritischen Veränderungsprozess (RKVP) in ihrer Organisationskultur integriert, jedoch nicht als linearen Lernprozess, sondern als kritische Perspektive auf Praktiken und Strukturen des Vereins. Ich erinnere mich noch an den Nachmittag, als ich im Internet Dinge über Rassismus in Deutschland recherchierte und plötzlich auf den Begriff "Rassismuskritischer Veränderungsprozess" auf der EIRENE-Website stieß. Ich war sofort begeistert, denn das war das erste Mal, dass ich die Worte "kritisch" und "Prozess" in Verbindung mit "Rassismus" fand, noch dazu bei einer Organisation, die in ehemals kolonisierten Ländern arbeitet. Ich überlegte gleich, wie ich mich mit dieser Organisation in Kontakt setzen könnte. Bis dahin richtete sich meine Kritik an der Diskussion über Rassismus in Ländern wie Deutschland gegen die "Leitkultur", die vorgibt, wie sich mit dem Thema auseinandergesetzt wird. Diese Leitkultur beruht auf einer festen Vorstellung davon, was Rassismus ist, was gesagt oder nicht gesagt werden darf, und bietet wenig Raum für selbstkritische und zielgerichtete Reflektion. Dabei ist "Selbstkritik" für mich das Zauberwort bei der Analyse von Rassismus. Sie macht den antirassistischen Prozess dynamisch. Es wird nicht nach einer vorgegebenen "Bedienungsanleitung" gelernt, sondern wir sind gezwungen zu reagieren, zu denken, zu reflektieren. Seit Sommer 2017 wirke ich als externe Ombudsperson an diesem Prozess mit.
Vor diesem Hintergrund und nach der Idee der Dekonstruktion der Ordnung haben wir begonnen, die lineare Logik eines Lernprozesses zu verlassen und uns in eine spiralförmige Bewegung begeben. Um in der aktuellen Reflexion über Rassismus weiterzukommen, müssen Vergangenheit (also Geschichte) und Zukunft EIRENE MAGAZIN SONDERAUSGABE (also unsere Erwartungen) Hand in Hand gehen. Das heißt, jedes Mal, wenn wir vorwärts gehen, schauen wir auf die Vergangenheit und versuchen, diesen Prozess zu etwas Aktivem zu machen, etwas, das weder beginnt noch endet.
Bei EIRENE sind wir uns bewusst, dass es nur einen Weg gibt, die koloniale Ordnung, die bis heute unser Modell der Entwicklungszusammenarbeit stützt, abzubauen: sich am antirassistischen politischen Kampf zu beteiligen. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass dies nicht einfach ist, denn es ist nicht leicht zu akzeptieren, dass selbst gute Absichten auf einer rassistischen und klassenbezogenen Konstruktion beruhen.
Liebe Leserinnen und Leser, Sie halten eine Sonderausgabe unseres Magazins in den Händen, die einem Prozess gewidmet ist, der mit seinen Licht-, aber auch mit seinen Schattenseiten in EIRENE einen Weg ohne Umkehr weitergegangen ist: dem Kampf gegen Rassismus. Wir sind davon überzeugt, dass angesichts des vorherrschenden Rassismus in der Welt Gleichgültigkeit und Neutralität nicht mehr möglich sind; es ist notwendig, die einzige Identität zu verteidigen, die Frieden möglich macht: die menschliche Identität. Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen und lade Sie ein, sich unserem Kampf anzuschließen.
von Carmen Ibáñez