"Ayudame a Ayudar" - Veronica aus Bolivien im Interview

Veronica Paxi und Christiane Bals: Gasttochter und Gastmutter im Gespräch.

Im Mai 2020 wäre ihr Freiwilligendienst in Deutschland eigentlich zu Ende gewesen. Aber Veronica Paxi (28) lebt noch immer in Andernach, in Rheinland-Pfalz. Eine Rückreise nach Bolivien ist für die studierte Pädagogin zur Zeit unmöglich. Die Grenzen sind zu, es gibt keine Flüge. Eine Auswirkung der Corona Pandemie.

Veronica arbeitet also weiter in ihrer Einsatzstelle, eine geschützte Werkstatt für psychisch beeinträchtigte Menschen. Sie arbeitet gerne dort, die Menschen sind aufgeschlossen und es gibt immer etwas zu lachen. Abends kehrt sie in ihre Gastfamilie zurück. Nachts telefoniert sie oft mit ihrer Familie in El Alto, 4000 Meter hoch gelegen.

Veronica, du telefonierst oft mit deiner Familie in Bolivien. Wie geht es ihnen?

Zum Glück gut. Sie sind alle gesund. Ich habe drei Geschwister, die mit meinen Eltern und meinem Onkel und unserer Katze zusammen in einem Haus mit vier kleinen Zimmern leben. Vom 22. März bis Ende Mai gab es eine strikte Ausgangssperre. Nur einmal in der Woche durfte einer aus meiner Familie das Haus verlassen, um einkaufen zu gehen. Das hat mein Bruder gemacht. Polizei und Militär kontrollierten die Straßen. Während der Ausgangssperre wurde mein Vater dann arbeitslos und auch meine Mutter konnte nicht mehr arbeiten.

Wie verdienen deine Eltern denn ihr Geld?

In Bolivien verdienen sich 70 Prozent der Menschen ihr Geld durch kleine Jobs. Meine Eltern gehören dazu. Meine Mutter, zum Beispiel, steht morgens um drei oder vier Uhr auf und bereitet warme Mahlzeiten für ungefähr einhundert Leute vor. Sobald das Essen fertig gekocht ist, geht sie auf die Straße, um es an ihrem Stammplatz zu verkaufen. Sie kommt erst nach Hause, wenn alles verkauft ist. Bleibt etwas übrig, essen wir es dann zuhause und teilen es mit den Nachbarn. Abends kauft meine Mutter dann neue Lebensmittel, um am nächsten Morgen wieder frisch zu kochen. Mein Vater ist Maurer, aber er kann auch schreinern und anderes mehr, aber er behält seinen Verdienst für sich. Im Grunde ist meine Mutter diejenige, die die ganze Familie mit ihrer Arbeit durchbringt.

Und wie sieht es jetzt in der Coronakrise aus?

Meine Mutter machte sich große Sorgen, dass sie ihren Stammplatz verliert. Sie hat ihn seit mehr als 20 Jahren angemietet und es ist ein guter Platz. Aber jetzt hat sie kaum noch Geld für die Miete. Es kann also sein, dass andere Menschen ihren Platz bekommen. Zum Glück hat die Regierung die Ausgangssperre seit Anfang Juni gelockert und sie kann im Moment dort wieder arbeiten. Aber natürlich ist das Geld knapp. Die Preise für die Lebensmittel schwanken enorm. Am Anfang war es überraschend billig und niemand wusste warum. Mittlerweile sind Reis, Eier, Kartoffeln und Fleisch wieder sehr teuer.

Wie geht es deinen Geschwistern?

Sie sind auch gesund und leben natürlich alle zuhause. Ich bin die Älteste. Meine Schwester ist 22 Jahre alt und musste ihr Praktikum, das sie für ihre Krankenpflegeausbildung braucht, wegen Corona unterbrechen. Sie liest viel. Mein kleiner Bruder ist 18 Jahre alt. Er hilft auch im Haushalt mit. Zur Zeit ist er viel im Internet, guckt Videos und manchmal, wenn das Internet stabil ist, hat er auch Schulunterricht. Er ist jetzt in der Abschlussklasse. Er wird wohl ein ganz gutes Zeugnis bekommen, aber für beide Geschwister ist es eigentlich ein verlorenes Jahr. Mein ältester Bruder ist 26 und hat seit wenigen Tagen wieder Arbeit gefunden. Er arbeitet als Handwerker in einem Dorf in der Nähe. Abends kommt er mit dem Fahrrad nach Hause. Der Weg dauert eine Stunde.

Wie schätzt Du das ein? Bekommen die Menschen in Bolivien genug Informationen über die Coronakrise?

Das ist schwierig für mich zu sagen, weil ich ja hier in Deutschland bin. Aber was ich von meinen Freundinnen höre ist, dass es in den Städten ausreichend und gute Informationen über Radio und die sozialen Medien gibt. Auf dem Land ist die Situation ganz anders. In einem Interview, das ich auf Facebook gesehen habe, wußten die Menschen in einem Dorf nur, dass Corona eine Krankheit ist. Und ich frage mich, was ist mit den Menschen, die kein Spanisch sprechen oder verstehen, sondern zum Beispiel nur ihre Muttersprache, etwa Aymara, sprechen? Oder was ist mit den Menschen, die alt sind und alleine leben? Ich versuche auch, zu informieren. Neulich bin ich um ein Radiointerview gebeten worden. Ein nationaler Sender, den ich von meinem ehrenamtlichen Engagement dort kenne, bat mich, über meine Situation hier in Deutschland zu sprechen und Informationen weiterzugeben, die ich hier gelernt habe. So habe ich erzählt, wie wichtig es ist, sich die Hände zu waschen, Masken zu tragen und Abstand zu halten. In Bolivien gibt es jetzt auch Maskenpflicht.

Was denken denn Deine Eltern über dich hier in Deutschland?

Meine Eltern hatten am Anfang Angst, dass ich noch hier in Europa bin. Sie haben die Zahlen gehört und in Europa gab es so viele Corona Infizierte. Da habe ich versucht zu erklären, dass Europa viele unterschiedliche Länder hat. Zum Beispiel, dass die Situation in Italien ganz anders war als in Deutschland. Da waren sie beruhigter. In Bolivien gab es Mitte März noch wenig Corona Fälle. Mittlerweile hat sich das geändert. Die offiziellen Zahlen steigen und die Dunkelziffer ist wahrscheinlich enorm.

Kennst Du Beispiele?

Mein Bruder erzählte mir von einer Frau, die auf offener Straße zusammenbrach. Sie bekam keine Luft mehr, hustete stark und so gab ihr jemand einen Stuhl. Sie starb wenig später auf dem Stuhl. Ob sie an Corona starb, werden wir nie erfahren. Sie taucht auch in keiner Statistik auf. Und ich habe erfahren, dass in der Stadt Beni, so viele Todesopfer sind, dass die Angehörigen ihre Toten auf offener Straße verbrennen. Niemand holt sie ab. Es ist kein Geld, keine Zeit, nicht genug Platz auf den Friedhöfen da, um sie würdig zu beerdigen. Und viele Krankenschwestern, Pfleger und Ärzte haben sich auch infiziert. Im Krankenhaus gibt es keinen Platz, wenig qualifiziertes Personal und alle haben natürlich auch Angst, dass sie sich selber anstecken.

Schickst Du Geld nach Bolivien, um deiner Familie zu helfen?

Natürlich. Oft. In meinem Freiwilligendienst bekomme ich 350 Euro im Monat. Damit bezahle ich alles, was ich brauche: Essen, Hygieneartikel und meine Fahrkarten. Zum Glück lebe ich ja in einer Gastfamilie und wir alle sorgen gemeinsam dafür, dass der Kühlschrank voll ist. So kann ich Geld sparen und es nach Hause schicken. Es ist vielleicht nicht viel, aber immerhin. Ich möchte das ja auch gerne machen. Als mein Bruder im April das Geld in der Bank abholen wollte, hatte die Bank in der Nähe aber geschlossen. Er ging dann zu Fuß zur nächsten Filiale. Sie war auch geschlossen. Er rief mich an und ich schaute für ihn im Internet nach, welche Bank in El Alto geöffnet hatte. Ich sagte ihm die Adresse und er ging dort hin. Als er ankam, gab es eine lange Schlange. Er stellte sich an. Als er an die Reihe kam, gab es kein Bargeld mehr. Da ging er wieder nach Hause. Drei Stunden dauerte das alles. Jetzt musste er eine Woche warten, bis es für ihn wieder erlaubt war, das Haus während der Ausgangssperre zu verlassen, um es erneut zu versuchen. Dann hat es geklappt. Meine Familie hat sich sehr gefreut.

Mehr Informationen über den EIRENE-Friedensdienst in Bolivien

Aber hilft die Regierung nicht auch, damit die Menschen nicht verhungern?

Doch, es gibt Hilfe. Ich kann aber nur davon erzählen, wie das für meine Familie war, in ihrer Zone der Stadt. Mein Vater erzählte mir, dass jeder Anrecht hatte auf eine einmalige Zahlung im Mai– umgerechnet etwa 60 Euro. Dafür musste er sich auch in einer Schlange anstellen. Zwei Tage vorher hat er sich schon eingereiht. In der Nacht regnete es. Er blieb aber vor Ort, um seinen Platz in der Schlange nicht zu verlieren. Meine Mutter löste ihn dann am nächsten Tag ab, damit er sich trockene Kleider anziehen konnte. Als er endlich an der Reihe war, bekam er das Geld. Als sich meine Mutter mit meiner Schwester ein paar Tage später in die Reihe stellte, bekamen sie kein Geld, weil ihre Namen nicht auf der Liste eingetragen waren. Warum die Namen fehlen, weiß keiner. Sie gingen also wieder nach Hause. Meine Brüder hoffen, dass sie auch auf der Liste stehen.

Was macht Dir Sorgen, wenn du an El Alto denkst?

Ich denke oft an die Frau mit den beiden kleinen Kindern, die vor unserem Haus auf der Straße lebten. Als meine Mutter mir am Anfang der Krise sagte, sie hätten zum Glück noch ganz viel Reis, habe ich sie gebeten, auch der Frau vor unserem Haus davon abzugeben und für sie zu kochen. Da sagte mir meine Mutter, die Frau mit den Kindern sei verschwunden. Niemand weiß wo sie ist. Ich muss oft an sie denken…. Und an die unzähligen vielen Menschen, die in El Alto auf der Straße leben, ohne Geld, ohne Essen, ohne Hilfe, ohne Papiere und ohne Information. Und ich mache mir große Sorgen, um all die Kinder und Frauen, die jetzt Opfer von häuslicher und männlicher Gewalt werden. Die Gewalt hat so zugenommen. Täglich verfolge ich das auf Facebook und in der Presse. Während der Ausgangssperre wurden im Schnitt neun Frauen in einer Woche von ihren Männern umgebracht. Das ist so schrecklich. Ich denke auch viel an die Opfer von sexueller Gewalt, Kinder wie Frauen. Besonders während der Ausgangssperre.Sie bekommen keine Hilfe. Auch nicht von der Polizei.

Fällt es Dir schwer, jetzt in Deutschland zu sein?

Natürlich ist das schwer. Aber ich verstehe, dass das jetzt so ist. Und ich kann von Deutschland aus meiner Familie mehr helfen, als wenn ich zuhause wäre. Ich bin jetzt in Deutschland und sobald ich zurückreisen kann, fahre ich nach Hause. Ich habe meinen Eltern gesagt, dass sie sich keine Sorgen machen sollen. Die Situation in Deutschland ist nicht so schlimm. Hier klappt alles und alle nehmen Corona ernst. In Bolivien ist die Situation vollkommen anders. Menschen haben keine Arbeit. Sie haben Hunger. Sie bekommen wenige oder keine Informationen und viele misstrauen der Regierung. Sie fragen sich, warum sie auf einmal zuhause bleiben? Was die Regierung jetzt wieder im Schilde führt? Und dann kommt es in manchen Vierteln zu Straßenschlachten. Und vor wenigen Tagen habe ich gehört, dass Menschen, die nun gar nicht mehr weiter wissen und kein Essen mehr haben, weiße Tücher aus den Fenstern hängen. Am Anfang waren es nur wenige. Jetzt habe ich Bilder gesehen… da ist die ganze Straße voll weißer Tücher. Und jedes Tuch ist ein Hilfeschrei.

Veronica, was können wir in Deutschland jetzt tun?

Wir können soviel machen. Wir können die Augen aufmachen, hingucken, was in anderen Ländern passiert. Und wir können viel voneinander lernen. Zum Beispiel lache ich manchmal, dass manche meinen, Bolivien sei ein Teil von Indien. Dann gucken wir uns die Länder zusammen auf der Karte an. Und ich wünschte, wir könnten alle mehr teilen, solidarisch sein. Dass Menschen Geld und Hilfe bekommen, damit sie überleben können. Mein Motto ist: ‚ayudame a ayudar‘, das bedeutet: Hilf mir zu helfen. So freue ich mich, wenn zum Beispiel viele Menschen dieses Interview lesen und verstehen, wie Menschen in Bolivien die aktuelle Situation erleben. Es ist sehr schwer für sie. Darum bin ich oft traurig.

Vielen Dank, liebe Verito. So gut, dass Du hier bist.

Danke Dir.

Das Interview führte Veronicas Gastmutter Christiane Bals.