Ein tausendjähriges Ritual für Frieden und Dialogförderung

Marco Antonio Ancasi Tarqui beim Pachamama-Ritual am 27. August in den Räumen der EIRENE-Koordination.

Im August jeden Jahres bereiten viele Bolivianer_innen ein Opfer für die Mutter Erde, Pachamama, und danken auf diese Weise für eine reiche Ernte. Durch dieses andine Ritual wird der Pachamama ein Teil dessen  zurückgegeben, was sie den Menschen das ganze Jahr über großzügig schenkt.

Auf einem Awayo (gewebtes Tuch) befanden sich bunte Fäden, Lamafett, Goldpapier, frische Nüsse und Süßigkeiten in Form kleiner Figuren. Den Opferaltar haben wir unter der Anleitung von zwei Kolleg_innen in einem meditativen Prozess zusammen gestaltet. Alles fand seinen Platz – auch ein Flyer zur Ankündigung des kommenden Weltfriedenstages, den wir 2021 zum zweiten Mal virtuell begehen. Wir konnten im Rahmen des Rituals Hoffnungen und Erfahrungswissen, Zweifel und Klagen teilen – unabhängig von religiöser Zugehörigkeit, ethnischer Identität oder Nationalität.

"Wir konnten im Rahmen des Rituals Hoffnungen und Erfahrungswissen, Zweifel und Klagen teilen"

Beim Aufbau des Opfertisches kam es sowohl darauf an, dem eigenen Geschmack Beachtung zu geben, als auch feste Regeln zu befolgen. Zum Schluss gingen wir vor das Bürogebäude, gossen Alkohol über die Opfergaben und entzündeten ein Feuer. Es handelte sich um einen geschützten Rahmen, obgleich wir das Feuer im öffentlichen Raum auf dem Bürgersteig entzündeten und sehr persönliche Erlebnisse austauschten. Dabei ergaben sich dann auch Gespräche mit der Nachbarschaft, in denen wir über unsere Friedensarbeit in El Alto berichten konnten und verbindende Elemente bemerkten.

Auch die Putzkraft, welche die Büros reinigt, nahm an dem Ritual teil. Und neugierige Passant_innen näherten sich der Feuerschale und fragten, wer wir seien. Soziale Schranken und politische Überzeugungen existieren im Rahmen des Rituals offenbar nicht. Mit den glühenden Holzscheiten gingen wir zum Ende der Zeremonie ins Büro, um die einzelnen Räume auszuräuchern. Ich habe mich dabei am Rande des Opferfestes gefragt, ob die Erde sich tatsächlich über diese Huldigung freut.

Überwogen hat am Ende aber das Glücksgefühl über die Möglichkeit sich mit Kolleg_innen zu treffen und auszutauschen. Diesen Aspekt benennt auch meine Kollegin Bernarda. Es geht ihrer Ansicht nach darum ein Gleichgewicht herzustellen zwischen den Menschen untereinander und der Natur.

Mehr zum EIRENE-Friedensdienst in Bolivien

Bernarda Ferreira Arza, Projektkoordinatorin bei der EIRENE-Partnerorganisation OMAK, spricht davon, dass die Mutter Erde im August ihren Mund öffnet, um sich zu stärken. Es ist ein Akt der Gegenseitigkeit, denn ihre Söhne und Töchter ernähren sie (die Pachamama), damit der Boden im nächsten Jahr abermals reiche Früchte hervorbringen kann.

Zugleich bitten Bolivianer_innen bei dieser Gelegenheit – mit aromatischen Heilkräutern, Kokablättern, Lamaföten und anderen Gaben – um Gesundheit, Frieden und Wohlergehen in der kommenden Zeit.

Dieser uralte Kult wird im privaten Rahmen, im öffentlichen Raum oder auf der Arbeit organisiert. Das Ritual erhält vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und den anhaltenden politischen Unruhen eine besondere Bedeutung. Das Corona-Virus hat auch Opfer auf Seiten der lokalen Mitarbeitenden in den EIRENE Projekten in El Alto gekostet und die aktuelle Situation erschwert die Umsetzung der Aktivitäten in den Organisationen. Zudem haben Pandemie und Präsidentschaftswahlen Spannungen und Gewalt potenziert.

Erstmals versammelten sich Partnerorganisationen von EIRENE Ende August für ein Brandopfer zu Ehren der Pachamama – auch in der Hoffnung dadurch Trost zu finden und gemeinsam in die Zukunft zu blicken. Bitten und Ausdrücke des Dankes fanden gleichermaßen Platz im Rahmen des Opferfestes, das auf Initiative von Eva Pevec im Koordinationsbüro ausgerichtet wurde. „Dort, wo üblicherweise Sitzungen stattfinden und Power Point Präsentationen an die Wand projiziert werden, um Beschlüsse zu fassen, veranstalteten wir ein tausendjähriges Ritual.“ Eva ergriff zu Beginn das Wort und erklärt den Anwesenden, was sie dazu bewogen hat, diese Einladung auszusprechen: „Liebe Partner_innen von EIRENE, für mich ist es ein besonderer Moment, den wir hier miteinander feiern. Als Organisationen, die wir Frieden und Verständigung fördern, wollen wir danken für allen Segen, den wir bisher erhalten haben, damit unsere Arbeit Früchte tragen kann. Wir tun dies nicht nur aus uns heraus, sondern sind eingebunden in Zeit und Raum, in Vergangenheit und Zukunft. Bitten wir mit unserer Opfergabe die Pachamama um weiteren Segen.“

Die Besinnung auf die traditionelle andine Spiritualität im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes kann uns manchen Hinweis darauf geben, was es braucht, damit gewaltfreie Konflikttransformation in den Anden und weltweit gelingt. Auch der Umgang mit Widersprüchen und Ambivalenzen gehört aus der Perspektive einer Friedensfachkraft immer wieder dazu.

von Esther Henning, Friedensfachkraft bei der EIRENE-Partnerorganisation OMAK in El Alto, Bolivien.