Frieden in Mali - Alles zur rechten Zeit

Boniface Cissé ist gebürtiger Malier und setzt sich seit über 15 Jahren für eine friedliche und gerechte Gesellschaft in seinem Heimatland ein. Heute ist er EIRENE-Koordinator für die Friedensarbeit in der Sahelregion. Er sagt: “Frieden kann nicht per Dekret erreicht werden, er ist viel mehr Konstruktionsarbeit.”

Wie kann der Frieden nach Mali zurückkehren? Eine Frage von immanenter Dringlichkeit, denn die Menschen in Mali leiden nun seit fast 10 Jahren unter Krieg und Vertreibung.

Internationale Militärmissionen, mit u.a. auch deutscher Beteiligung, haben den erhofften Frieden, trotz jahrelangem und kostspieligem Engagement, nicht gebracht. Jetzt hat die amtierende Übergangsregierung, die vom malischen Militär kontrolliert wird, demokratische Wahlen um fünf Jahre verschoben. Die internationale Gemeinschaft sowie die westafrikanischen Nachbarländer reagierten erbost und sanktionierten seit Anfang des Jahres das vom Bürgerkrieg gebeutelte Volk. Frieden braucht internationale Solidarität, wie kann diese unter diesen schwierigen Bedingungen aussehen?

„Die Menschen in Mali haben sehr schlechte Erfahrungen mit zivilen Regierungen in den letzten Jahren gemacht“, sagt Boniface Cissé, der EIRENE-Koordinator für Friedensarbeit im Sahel. Als gebürtiger Malier analysiert er seit Jahren  die Friedensbemühungen seines Heimatlandes. „Die Wahlbeteiligung bei der letzten Wahl im August 2018 lag bei nur 34 Prozent. Die Bevölkerung vertraut den etablierten Parteien nicht, waren es doch ihre Fehler der Vergangenheit, die den Boden für gewalttätige und militante Gruppen bereitet haben. In den Amtszeiten der zivilen Präsidenten Amadou Toumani Touré und Ibrahim Boubacar Keita in den letzten 20 Jahren ist das Land immer weiter in die Krise geschlittert. Auch sind aktuell die Gegebenheiten für demokratischen Wahlen in keinster Weise gegeben: Der Staat kann nur in einem Drittel des Landes für die Sicherheit seiner Bürger_innen bei Urnengang garantieren.“

Die Gefahr von unechten Wahlen

Aus der Forschung ist bekannt, dass Wahlen in Ländern, die sich entweder in einem Bürgerkrieg befinden oder gerade einen Waffenstillstand errungen haben, die Perspektiven auf Frieden gefährden. Der Wahlkampf polarisiert die sowieso schon befeindeten Fraktionen und wenn diese keine anerkannte politische Repräsentation haben, also gar nicht zur Wahl antreten dürfen, dann verliert das erzielte Ergebnis letztendlich seine Gültigkeit. Schlimmer noch: Angehörige der Konfliktparteien in Mali haben nach den beiden „zivilen“ Wahlen 2013 und 2020 aufgrund von Unregelmäßigkeiten und dem Verdacht von Wahlbetrug zu den Waffen gegriffen. Der Krieg im Land erfuhr nach beiden Wahlen eine neue Eskalation. So bekräftigt auch der Sahel Ausschuss der Vereinigung für Afrikawissenschaften in Deutschland (VAD): „Auf „raschen“ Wahlen zu bestehen – ob in Libyen, Mali oder dem Sudan – macht nur dann Sinn, wenn die Bevölkerung zu grundlegenden Fragen der Orientierung des Landes klare Vorschläge sieht und im wahrsten Sinne des Wortes eine Wahl hat“, in einer Pressemitteilung von Januar 2022. Wie viele andere auch sehen die Afrikawissenschaftler_innen des VAD bis heute nicht, dass die politischen Eliten Malis ihre Politik grundlegend verändern. Darunter leiden insbesondere die Menschen, die zwischen die Fronten leben. Armut und Ausgrenzung prägen das Leben einer Mehrheit von Bürger_innen im Vielvölkerstaat Mali. Genau diese Faktoren haben militanten-extremistischen Gruppen in den letzten Jahren Aufwind gegeben.

Mehr über den EIRENE-Friedensdienst in Mali

De facto genießt die Militärregierung heute seit ihrem Putsch einen größeren Rückhalt in der Bevölkerung, als vorherige zivile Regierungen. Ihr ist es gelungen, dass Angriffe auf Dörfer und Zivilisten abgenommen haben. So zeigten sich im Sommer letzten Jahres 65 Prozent der Teilnehmer_innen einer Meinungsumfrage der deutschen Friedrich Ebert Stiftung mit der vom Oberst Assimi Goïta geführten Regierung zufrieden. So haben die jetzt verhängten Sanktionen der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) und der Europäischen Union (EU) zwei gefährliche Konsequenzen: Die Mehrheit der Malier_innen nehmen die Sanktionen als „Demütigung“ durch den Westen war, so Boniface Cissé. Sie scharen sich aus Trotz um eine Militärregierung, die den Konflikt mit Gewalt lösen will, und dabei Massaker begeht und universale Menschenrechte verletzt. Auf der anderen Seite werden die Menschen im Norden hart von den wirtschaftlichen Sanktionen getroffen. Um ihre Grundbedürfnisse nach Nahrung und Sicherheit zu befriedigen, steht zu befürchten, dass sie sich vermehrt den extremistischen und militanten Gruppe in der Region zu wenden werden. Unter diesen Vorzeichen ist kein Ende des Bürgerkriegs in Mali in Sicht.

„Für Frieden in Mali müssen wir das Land reformieren, wir müssen die Korruption bekämpfen und den sozialen Zusammenhalt wieder stärken“, sagt François Sangare, Direktor der malischen Friedensorganisation ORFED. Auf einer online Veranstaltung im Dezember 2021, die ORFED und EIRENE gemeinsam organisiert haben, hat er eine klare Vision gezeichnet, wie der Frieden nach Mali zurück kommen wird. „Wir wollen einen transparenten Staatshaushalt, und alle Malier_innen sollen bei der Neuausrichtung des Landes mitsprechen dürfen.“

Malische Friedensaktivist_innen haben ORFED im Jahr 2004 gegründet. Seitdem haben viele Menschen den gewaltfreien Umgang mit Konflikten dank ORFED gelernt. Die Organisation arbeitet mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen zusammen, so werden Jugendverbände, Lehrer_innen, Journalist_innen und Frauengruppen in ihren Anstrengungen für Frieden unterstützt.

Internationale Solidarität

Boniface Cissé, der selbst mehrere Jahre bei ORFED gearbeitet hat, sieht in der zivilen Konfliktbearbeitung den Schlüssel zum Frieden: „Gegenwärtig hat die Militärregierung weder den Status der malischen Zivilgesellschaft noch deren Arbeit in Frage gestellt. Die sozialen Spannungen des Landes werden durch den Einsatz von Waffengewalt seit 2012 verschärft. Die Menschen in Mali können sie nur durch Aussöhnung und einen aufrichtigen Dialog besiegen. Dies ist eine genuine Arbeit der Zivilgesellschaft.“ Da diese von der  jetzigen Militärregierung nicht behindert wird, diese sogar aktiv gegen Korruption vorgeht und groß angelegte Beratungsprozesse zur Zukunft des Landes veranstaltet, sehen viele Friedensexpert_innen es als Fehler der internationalen Gemeinschaft an, jetzt Sanktionen zu verhängen. Cissé betont: „Die ECOWAS- und EU-Sanktionen treffen eine vom Bürgerkrieg und Covid-19 gebeutelte Bevölkerung. Viele Menschen wenden sich von der internationalen  Gemeinschaft ab und beschuldigen die ehemalige Kolonialmacht Frankreich eines selbstgerechten Einflusses auf ihre vormalige Kolonie Mali.“ Internationale Solidarität muss grundlegend neu strukturiert werden, will sie eine tragende Rolle im malischen Friedensprozess spielen.

Die malischen Streitkräfte haben seit Konfliktbeginn immer wieder Menschenrechtsverletzungen begangen, auch Massaker. Noch immer herrscht eine Kultur der Straflosigkeit innerhalb des Sicherheitsapparats. Viele Menschen, besonders im Norden des Landes misstrauen ihm. Für sie bringt der malische Staat keine Sicherheit, sondern Gewalt. Genau dies gilt es von der internationalen Gemeinschaft zu sanktionieren, denn diese Straflosigkeit wird den Konflikt immer weiter befeuern und Aussöhnung verunmöglichen. Ein Land sollte jedoch nicht dafür bestraft werden, dass sich weigert unechte und vom Volk nicht gewollte Wahlen zu rasch durchzuführen, das sieht auch der VAD so. Stattdessen sollte Mali darin unterstützt werden, groß angelegte Beratungsprozesse für eine friedliche Zukunft des Landes fortzuführen und deren Ergebnisse zu rechten Zeit umzusetzen.

Stefan Heiß
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift Friedensforum 3/2022 des Netzwerks Friedenskooperative.