Kinderherzen aus der Tiefe bergen

Bild von Miguel Ángel Aramayo Ochoa
Tom Knauf (links) im Gespräch auf der Straße. © Miguel Ángel Aramayo Ochoa

Zu Besuch beim neuen EIRENE-Partner Maya Paya Kimsa in El Alto, Bolivien. Eine Reportage von Tom Knauf über deren Arbeit mit Straßenkindern.

„Glaubst Du, dass Du mich verändern kannst?“, fragt mich Natalio. Seine Gesichtshaut ist von der Höhensonne verbrannt, seine Augen sind gelb, ich rieche Alkohol. „Nein“, antworte ich. „Glaubst Du, Gott kann mich verändern?“ Seine Stimme zittert, sein glasiger Blick fixiert meine Augen. „Nein“, antworte ich erneut. „Genau“, sagt Natalio, „nur ich kann mich ändern.“ – „Und willst Du Dich ändern?“ Ich bin gespannt auf seine Antwort. „Ich will es so sehr.“ Seine Stimme bricht. „Aber ich schaffe es nicht. Ich will leben, doch in mir ist kein Leben.“ Und plötzlich quillt der ganze Schmerz aus seinen Augenhervor. Dicke Tränen laufen über seine Wangen – pures Leben, wie ich finde, doch Natalio spürt kein Leben. Er schluchzt und weint und lässt es zu, dass ich ein paar Minuten lang seine Hand halte.

Wie so oft an diesen Tagen bin ich sprachlos und hoffe, dass meine hilflose Geste ein bisschen Trost spendet. Zwei Tage lang begleite ich das Team von Maya Paya Kimsa bei ihren Aktivitäten. Maya Paya Kimsa ist eine gemeinnützige Initiative, die das Ziel verfolgt, das Leben von Straßenkindern in El Alto zu verbessern. El Alto: Die zweitgrößte Stadt Boliviens, gelegen auf über 4000 Metern Höhe, entstanden als Anlaufstelle der Landbevölkerung auf dem Hochplateau vor La Paz, Boliviens Hauptstadt. Heute ist El Alto größer als La Paz, eine Stadt voller Konflikte, Vitalität und einer Bevölkerung, die sich nicht unterkriegen lässt.

 

Im Fahrwasser dieser Bevölkerung leben die Straßenkinder. Sie fristen ein Dasein geprägt von Kälte, Diskriminierung, Alkohol, Drogen und Gewalt. In vielen Fällen sexualisierter Gewalt. Dabei geht es auch ums Geldverdienen. Denn der Alkohol und die Drogen müssen bezahlt werden. Auch der Schlafplatz muss finanziert werden, denn die Nächte in El Alto sind kalt. Zu mehreren teilen sich die Kinder nachts ein Zimmer in einem alojamiento, ranzige Hotels, in denen sich niemand dafür interessiert, wer hier einkehrt – ob Kinder, die Unterschlupf suchen, oder Freier, die sich an ihnen vergehen. Auch Babys leben hier, sie wachsen zwischen Schnapsflaschen und Drogen auf. Fast alle Kinder und Jugendliche, die ich kennenlerne, sind HIV positiv.

Streetworker in El Alto – Ein eindringlicher Blick auf das harte Leben der Straßenkinder, geprägt von Kälte und Gewalt in der Stadt.

Verarzten und Umarmen

Wieso fristen die Kinder ein solches Dasein? „Die meisten hier sagen, die Kinder seien doch selbst schuld“, erzählt mir Janneth Perez Molina, die Direktorin von Maya Paya Kimsa. „Doch welches Kind verlässt schon freiwillig sein Zuhause und seine Eltern? Das tun sie nur, wenn zu Hause etwas wirklich Schlimmes passiert!“ Das stimmt. Alle Kinder, mit denen ich rede, erzählen mir von der häuslichen Gewalt, der sie ausgesetzt waren, bevor sie das Leben auf der Straße suchten. Von Vätern, Stiefvätern und Brüdern, die sie verprügelten. Die mit Schnapsflaschen nach ihnen warfen. Sie erzählen auch von verstorbenen Eltern sowie von Verwandten, die sie aufgenommen haben. Die ihren Frust an ihnen ausgelassen haben, weil die Familie nun noch mehr Münder zu sättigen hatten. Das erträgt man nicht lange, da haut‘ man halt ab.

Zusammen mit dem Team von Maya Paya Kimsa gehe ich auf „Tauchgang“. Wir tauchen ab in die „Unterwelt“ von El Alto, gehen an Orte, die andere meiden, und sprechen mit denen, die vermeintlich niemand liebt und niemand vermisst. Die buceos – eben Tauchgänge – finden mehrmals die Woche statt, sowohl nachmittags als auch abends. Sie verfolgen das Ziel, mit den Kindern auf freundschaftliche, direkte Art in Kontakt zu treten. Auf ihrem Terrain. Wir wollen ihnen zuhören, mit ihnen Späße machen, ihnen eine Umarmung geben. Vertrauen aufbauen. Wir wollen ihnen zeigen, dass da Menschen sind, denen sie wichtig sind, ohne dass sie etwas dafür tun müssen. Mal ist ein Fußball mit dabei, mal ein Rucksack mit Pflastern und Desinfektionsmitteln. Viele Kinder tragen Verletzungen. Einige sind unverletzt und wollen trotzdem verarztet werden.

„Sie zeigen auf ihren Arm und sagen, dass sie Schmerzen haben“, sagt mir Horacio Gonzales Orozco, einer der educadores (dt. Sozialarbeiter_in/ Erzieher_in) von Maya Paya Kimsa, mit dem ich auf Tauchgang gehe. „Wir verarzten sie dann genauso wie alle anderen. Sie kommen, weil sie den physischen Kontakt wollen, und weil es ihnen guttut, dass sich jemand um sie sorgt.“

Jugendlicher auf den Straßen el Altos wird erstversorgt.

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Diese ersten Kontakte bilden die Grundlage dafür, dass die Kinder Mut und Motivation bekommen, ihre Routine auf der Straße zu unterbrechen und Maya Paya Kimsa zu besuchen. Freiwillig, ohne Druck. Die Tauchgänge sind die erste Etappe eines Programms, das den Kindern Alternativen zum Leben auf der Straße zeigt. Sie stellen eine Brücke dar, die die Straßenkinder überqueren, um an den Aktivitäten im Jugendzentrum teilzunehmen. Dort gibt es einen Bereich, der Kindern zur Verfügung steht, die auf der Straße leben. Unbehelligt von den Schwierigkeiten der Straße können sie hier spielen und Quatsch machen. Es gibt auch einen Bereich für Kinder, die lernen wollen. Immer sind die educadores dabei. Sie spielen mit den Kindern, machen Sport und stehen für Gespräche zur Verfügung. Ziel des Programms ist es, die Kinder zu stabilisieren und mit ihnen Schritt für Schritt – meist über Jahre hinweg – gemeinsam ein Lebensprojekt zu entwerfen, bis sie den Absprung schaffen. Weg von der Straße, hin zu einem Leben ohne Drogen, ein Leben das ihnen ein Zuhause, Sicherheit und Eigenständigkeit verspricht.

Eine berührende Umarmung – ein Streetworker gibt einer Jugendlichen auf der Straße Trost und Unterstützung.

„Auf der Straße hatte ich immer Hunger, mir war kalt und ich war müde, wenn ich keinen Schlafplatz hatte“, erzählt mir die gerade mal 15 Jahre alte Mónica (Name geändert). „Alle waren immer betrunken, wir mussten kriminell sein, um zu überleben. Ich habe mich nie wohl auf der Straße gefühlt.“ Durch Freunde erfuhr sie, dass es da nette Leute gibt, die jeden Mittwoch mit einem Fußball und einem Snack auf dem Sportplatz auf sie warten. So lernte sie Maya Paya Kimsa kennen. Mit der Hilfe von Maya Paya Kimsa fand Mónica zu ihrer Familie zurück und schaffte es, sich durch die ständige Begleitung der ganzen Familie durch die educadores wieder einzuleben. Heute geht sie zur Schule und möchte Anwältin werden. Ohne die Hilfe des Jugendzentrums hätte sie es nicht geschafft.

Maya Paya Kimsa – Eins, Zwei, Drei auf Aymara, der indigenen Sprache, die viele Menschen in El Alto sprechen. Auf die Plätze, fertig, los – und ab in ein neues Leben, fernab der Straße! Das ist das Ziel, das Maya Paya Kimsa in seinem Namen trägt.

Wer für den Absprung bereit ist und über einen längeren Zeitraum stabil bleibt, kann die erste Etappe des Programms verlassen und ins Reintegrationsprogramm aufgenommen werden. Wie Juan Gabriel (25) und Mabel (28). Sie haben sich für das Gespräch mit mir extra eine Auszeit von der Arbeit genommen. Mabel trägt ein leuchtendgelbes T-Shirt, Juan Gabriel Kappe, Pullover und viele Narben im Gesicht. Die beiden lernten sich im Suff auf der Straße kennen. Juan Gabriels Eltern waren gestorben. Maribel war vor den Schlägen und dem sexuellen Missbrauch durch ihre Familie geflohen. Als Mabel schwanger wurde, fiel die Entscheidung, die Straße zu verlassen. Maya Paya Kimsa unterstützte das junge Paar sowohl in der Schwangerschaft als auch beim Start in ein neues Leben. Heute leben sie mit zwei Kindern im Haus von Mabels Familie. Das Verhältnis wurde unter psychologischer Begleitung aller Familienmitglieder aufgearbeitet. Das junge Paar führt heute ein eigenes Unternehmen, mit dem sie Salz in El Alto verkaufen.

Mónica im Gespräch mit einem Maya Paya Kimsa Streetworker.

Das Wunder immer fest vor Augen - Lesen Sie hier das Interview mit Janneth Molina Perez, der Direktorin von Maya Paya Kimsa

Ein wertschätzender Ansatz

Im Reintegrationsprogramm erhalten die Kinder und Jugendlichen Schulungen und Ausbildungsmöglichkeiten, die ihnen ein unabhängiges Leben ermöglichen. Dabei steht Maya Paya Kimsa unablässig an ihrer Seite, denn ein Rückfall auf die Straße ist immer möglich. „Im Reintegrationsprogramm begleiten wir die Jugendlichen auch therapeutisch“, erklärt mir die Psychologin Blanca Villarruel Garvizu. „Unser Ansatz dabei ist, dass wir die Erfahrungen, die sie auf der Straße gemacht haben – die  berlebensstrategien, das Durchhaltevermögen – wertschätzen und nicht schlecht reden. Diese Erfahrungen gehören zu ihnen, und anstatt sie zu verdrängen, versuchen wir sie umzuwandeln in Qualitäten, die ihnen ein gutes Leben ermöglichen.“

Der wertschätzende Ansatz, das Verständnis, die Geduld, die Augenhöhe. Die Freude, die Zuneigung. All das rührt mich. Ich bewundere die Hingabe der educadores ebenso wie die Willenskraft der Kinder und Jugendlichen. Ich wünsche mir, dass ein gewaltfreies Leben für alle möglich ist.

Gewalt kann sich in viele Gewänder kleiden, in sichtbare und unsichtbare. Sichtbare Gewalt zeigt sich in Form von Schlägen, Tritten, Mord und Missbrauch. Auch Worte transportieren Gewalt. Unsichtbare Gewalt hingegen versteckt sich. Im Rassismus, in der Benachteiligung von Frauen und in all jenen Strukturen, die ganze Bevölkerungsgruppen an den Rand der Gesellschaft drängen oder ausgrenzen. Ihnen alles vorenthalten oder erschweren, was für andere selbstverständlich ist. Sie zeigt sich im täglichen Kampf der Bevölkerung El Altos um Rechte, Anerkennung und ein gutes Leben. Es ist der Bereich des Unsichtbaren, in den wir im buceo abtauchen. Denn unter der Wasseroberfläche brodelt es. Die strukturelle Gewalt zeigt hier ihr hässliches Gesicht. Und sie wirft Schatten. Für mich haben diese Schatten nun Gestalt angenommen. Sie haben sonnenverbrannte Gesichter, müde Augen und Albträume. Sie tragen Namen wie Mabel, Juan Gabriel, Natalio und Mónica. Sie erzählen Geschichten von Polizeigewalt, Sonnenaufgängen und Liebe. Sie haben Lebenspläne. Und sie tragen Narben. Manche verheilen. Viele nicht.

Von Tom Knauf

Dieser Artikel erschien im EIRENE Magazin 1/202

Streetworker mit Erste-Hilfe-Koffer