Von guten Mächten wunderbar geborgen

Andreas sitzt mit einer Fernbedienung auf einem Fels umgeben von jungen Menschen 2021: Flugstunde auf dem Mont Bagzam im Air Nigers – Andreas lässt eine Drohne zur Landnutzungskartierung fliegen und erzeugt großes Interesse ©Andreas Bürkert

Prof. Dr. Andreas Bürkert war Anfang der 1980er Jahre EIRENE-Freiwilliger in Spanien. Das Interesse an praktischen Dingen und der Drang aktiv die Lebensrealität der Menschen im Globalen Süden zu verbessern haben ihn ein Leben lang begleitet. Heute ist er Professor für Ökologischen Pflanzenbau und Agrarökosystemforschung in den Tropen und Subtropen an der Universität Kassel. Im Interview blickt er zurück auf über 40 Jahre Engagement für Frieden und Gerechtigkeit und erklärt warum er und seine Schwester Dr. Barbara Bürkert-Engel die EIRENE-Stiftung gegründet haben. 

Bereits in jungen Jahren hast Du mit Fahrrad, Schiff, Bus und Zug die Welt bereist und Dich aktiv für Gerechtigkeit und Frieden eingesetzt. Wie kam damals der Kontakt zu EIRENE zu Stande?

Ich habe Ende der 1970er Jahre vor dem, laut Spiegel, damals angeblich strengsten Richter Deutschlands in Aulendorf meinen Wehrdienst verweigert. Danach habe ich nach alternativen Friedensdiensten gesucht und bin dabei auf EIRENE gestoßen. Ich hatte damals bereits ein ZIS-Stipendium unter der Schirmherrschaft der UNESCO und war stark an der Auseinandersetzung zwischen der USA und Kuba interessiert, so verschlug es mich zu nächst nach Zentralamerika – Kuba, Mexiko und Nicaragua. Der Freiwilligendienst mit EIRENE kam später.

Bild von einem Schiff im Hafen
Andreas erste Reise auf den amerikanischen Kontinent erfolgte als Matrose auf der MS Pomona, einem Bananenschiff. Hier im Hafen von Antwerpen.

Wie haben Dich deine Erfahrungen in Zentralamerika geprägt? Wir versuchen heute bei EIRENE möglichst Flugreisen zu vermeiden, tatsächlich war diese Einsicht bei Dir schon Anfang der 1980er Jahre vorhanden.

Ja, ich wollte damals die Anreise ökologisch nachhaltig und zugleich preiswert gestalten und habe deshalb auf einem Bananenschiff als Matrose angeheuert. Ich hatte bis zu meinem 23 Lebensjahr keinen Führerschein, den habe ich erst gemacht, als dies wegen meines Studiums der Agrarwissenschaften notwendig wurde und bin damals, vielleicht aus innerer Abneigung gegen diese Art individualisierter, ressourcenverschwenderischer Fortbewegung drei Mal durch die Fahrprüfung gefallen. Auf der MS „Pomona“ stach ich dann in Antwerpen in See und reiste über Hamburg nach Bocas del Toro in Panama, um dort Bananen zu laden. Meine tägliche Aufgabe war es, in 10-Stunden Tagen heiße Auspuffrohre im ölverschmierten Maschinenraum zu streichen, ab Hamburg stieg ich dann auf und durfte auf Deck Rost klopfen und danach die blendend weißen Schiffsaufbauten in gleißender Sonne mit bleihaltiger Mennige farblich aufhübschen.

Auf Kuba selbst konnte ich aus Visumsgründen leider nicht sehr lange bleiben. Meine Anreise von Panama dorthin hatte mein ganzes Geld verschlungen, neues zu verdienen gelang mir aber in einer Autowerkstatt in Mexiko-Stadt. Da ich immer Interesse an der Lösung praktischer Probleme hatte und weil mir schon als Jugendlichem klar schien, dass ich einmal in der „armen Welt“ arbeiten wollte, habe ich früh Autogenschweißen, also Schweißen ohne Elektrizität, gelernt. Das kam mir jetzt zugute – meine Schweiß- und Lötnähte hielten jede sinnvolle Belastung aus.

Mein ursprüngliches Interesse am sozialistisch-kapitalistischen Diskurs führte mich dann nach Nicaragua, da ein weiterer Aufenthalt in Kuba nicht mehr möglich war. Es blieb mir nur noch Nicaragua, weil es das einzige Land in der Region war, das damals mit Ernesto Cardenal als Kultusminister, an einer neuen sozialistischen Ordnung arbeitete. Während der ersten zwei Monate lernte ich im Latrinenbau in Rivas die Realität der sandinistischen Revolution hautnah kennen. Danach habe ich mich mit dem Bildungssystem beschäftigt. Der daraus entstandene kritische Bericht öffnete mir die Türe in die Studienstiftung des Deutschen Volkes.

Was war deine Motivation dich nach deinen eindrücklichen Auslandserfahrungen in Zentralamerika auf einen EIRENE-Freiwilligendienst einzulassen?

Für mich war der Freiwilligendienst mit EIRENE eine riesige Chance! Ich kam aus Lateinamerika und interessierte mich brennend für die praktische Umsetzung – den Sitz im Leben – des christlichen Glaubens. Nicaragua war damals theologisch zerrissen zwischen dem konservativ geprägten Glauben der Moravischen Kirche, die den amerikanisch-deutschen Herrnhuter Brüder Gemeinden nahe steht und der katholischen Befreiungstheologie, die die sandinistische Revolution wesentlich mitgeprägt hatte. Meinen EIRENE-Freiwilligendienst habe ich deshalb in der Communidad Christiana in Quintanadueñas, einer pfingstlerischen Basisgemeinde nahe der nordspanischen Stadt Burgos geleistet. Ich musste mich dabei intensiv mit pfingstlerischen Ansätzen, die auch in den moravischen Kirchen Nicaragaus spürbar waren, auseinandersetzen. Die kleine Gemeinschaft war durch einen charismatischen Führer sehr autoritär organisiert, hatte aber große Erfolge in der Rehabilitation von Drogensüchtigen und ehemaligen Gefängnisinsassen. Die zerstörerische Macht der Droge wurde sozusagen durch die Autorität der christlichen Gemeinschaft ersetzt.

Es war keine einfache Einsatzstelle, mein Vorgänger hatte nach einiger Zeit aufgegeben. Ich war vielleicht bei EIRENE aufgefallen als jemand, der nie aufgibt. Möglicherweise wöhlte mich Traude Rebmann deshalb für diese Stelle aus, die nach mir leider nicht mehr besetzt werden konnte. Für meinen Friedensdienst in Burgos bin ich heute noch dankbar, denn ich habe in dieser Zeit gelernt, auf was es im Leben ankommt. Ich war für Bauaktivitäten in einer Außenstelle der Communidad Christiana dem verlassenen Bergdorf Brieva de Juarros verantwortlich. Das war ein richtig kalter Ort ohne Strom und fließendem Wasser. Man schlief im Winter bei Außentemperaturen von bis zu -20°C mit Backsteinen im Schlafsack, die man sich vorher am Feuer warm gemacht hatte. Tagsüber baute man Gemeinschaftsunterkünfte aus Natursteinen, wobei ich viel gelernt habe, insbesondere auch, mit ganz anderen Menschen in schwierigen Bedingungen zusammen zu arbeiten. Danach habe ich mit großer Freude mein kurz gehaltenes agrarwissenschaftliches Grundstudium in Hohenheim begonnen den ich danach in Kalifornien mit einen Masterstudium der Internationalen Agrarentwicklung fortsetzen konnte.

Deine Schwester Barbara hat auch mit EIRENE einen Freiwilligendienst, damals in England, geleistet. Gemeinsam habt ihr 2001 die EIRENE-Stiftung gegründet. Was waren und sind eure Ziele mit der Stiftung?

Wir hatten eine etwas schwierige Kindheit, erbten dann aber eine Wohnung in einem vornehmen Teil von München, die wir verkauften. Da wir das Geld nicht brauchten, haben wir entschieden, es als Grundstockkapital für die von uns ins Leben gerufene EIRENE-Stiftung zu verwenden. Die Idee zur Gründung einer Stiftung und dauerhaften Unterstützung der EIRENE-Friedensdienste entstand bei morgendlichen Läufen mit dem ehemaligen EIRENE-Geschäftsführer Paul Gentner. Durch seine ehrliche, offene und geradlinige Art hat er sowohl meine Schwester Barbara als auch mich beeindruckt und trug maßgeblich dazu bei, dass wir uns entschieden haben, unsere Freiwilligendienste bei EIRENE zu leisten.

Mehr Informationen zur EIRENE Stiftung

Zustiften heißt für den Frieden dauerhaft sorgen

Friedensdienste und Entwicklungsvorhaben brauchen finanzielle Unterstützung. Wer diese Arbeit auf zukunftsfähige Weise fördern möchte, kann sich durch eine Zustiftung, ein Vermächtnis oder eine Erbschaft an der EIRENE-Stiftung beteiligen

Persönlich und beruflich verbindet dich viel mit Niger, einem Land in dem auch EIRENE seit mehreren Jahrzehnten aktiv ist. Woher kommt die Verbundenheit

In den Niger kam ich erstmals 1991 als agrarwissenschaftlicher Doktorand an der Universität Hohenheim. Damals war meine spätere Frau Barbara, die den gleichen Vornamen wie meine Schwester trägt, aber drei Tage jünger ist als sie, bereits promovierte Agrarbiologin. Nach unserer Heirat arbeitete sie dann in einem EIRENE Schulbuchprojekt am INDRAP in Niamey. Damals bekamen die nigrischen Schüler*innen Mathematik-Bücher aus Frankreich, die ihrer Lebenswirklichkeit in keiner Weise angepasst waren. Kinder sollten Autos auf den Champs-Élysées zählen statt Kamele oder Ziegen am Brunnen. Ghislain Spaak, ein engagierter französischer Mathematiklehrer verfolgte zusammen mit seiner Frau Geneviève, die in den 1990er Jahren auch einmal Landeskoordinatorin von EIRENE-Niger war, einen „Mathematik for Empowerement“-Ansatz. Mit minimalen finanziellen Ressourcen, aber viel Liebe zum Detail und profundem didaktischen Wissen wurden nicht nur die Lehrbücher, sondern das ganze Mathematik-Curriculum Nigers lebensnah umgestaltet. Meine Frau bearbeitete das Layout und entwickelte Textaufgaben mit wirklichkeitsnahen Fragestellungen: Wie oft muss ich mit einem 20 l Eimer zum Brunnen gehen, um einen 50 Kamele mit je 10 l Wasserbedarf zu tränken?

Wie hat sich der EIRENE-Friedensdienst in Niger über die Jahre in deinen Augen entwickelt?

Das Engagement von EIRENE nahm nach der zweiten sahelischen Dürre Anfang der 1980er Jahre rasch Fahrt auf. Einer der ersten Freiwilligen waren Georg Kute, ein Kollege mit dem ich heute noch Kontakt habe. Zusammen mit dem letzten Jahr verstorbenen Wilhelm Wilmers und ihren Nachfolgern errichteten beide in Ingal und bei Agadez in einem partizipativen Ansatz Erosionsschutzdämme und Flussbefestigungen. Später folgten dann Brunnen in Tabelot und im Aïr, die teilweise bis heute dankbar genutzt werden, die Alten sprechen dort immer noch von Martin Petry, Gottfried Horneber und anderen EIRENE-Fachkräften.

EIRENE ist ja mehr und mehr von der landwirtschaftlichen Entwicklung weggegangen und hat ihre Arbeit im Konfliktmanagement über das Programm GENOVICO intensiviert. Dass man stärker auf gesellschaftswissenschaftliche und sozialmobilisierende Zusammenarbeit setzt und agrarwissenschaftliche Expertise in den Hintergrund tritt, hat den Wirkungsraum von EIRENE in meinen Augen in der wesentlich agro-pastoral geprägten Lebenswirklichkeit der Sahelstaaten schon etwas begrenzt. Die Kombination aus agrarwirtschaftlich–technischem Sachverstand und der Fähigkeit, auch in konfliktivem Umfeld wirken zu können hat eine hohe Strahlkraft. Dies gerade in der heutigen Situation, in der sich solidarische Entwicklungszusammenarbeit in den politisch ja derzeit weitgehend gescheiterten Sahelstaaten aus Sorge um „Leib und Leben“ immer mehr zurück zieht aus der Fläche. Dies ist im Niger auch vor dem Hintergrund der von damals 7 Millionen Menschen auf heute über 28 Millionen gewachsenen Bevölkerung besonders deutlich spürbar. Ohne Bildung, auch und gerade fachliche Ausbildung, wird es dort keinen Frieden und insbesondere auch keine nachhaltige, sozial gerechtere Entwicklung geben können

Andreas steht mit zwei Männern in Niger auf einem Feld

Deine Promotion in Niger wurde in akademischen Kreisen sehr positiv aufgenommen. War danach dein Weg in die Wissenschaft vorgegeben?

Es war zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht absehbar, dass ich einmal Hochschullehrer werden würde. Ich wollte ja immer an problemorientierten Fragenstellungen arbeiten, dann eben als promovierter Entwicklungshelfer. 

Nach einer drei-jährigen Vertretungsprofessur an der Universität Kassel ging ich 2002 mit dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) als Hochschullehrer nach Myanmar, China und Afghanistan gegangen, wir hatten damals drei kleine Kinder, die mit Barbara zu Hause blieben und mich (ungern) ziehen ließen. Gerade in Kabul habe ich unter schwierigen Bedingungen gelernt, was akademische Lehre bewirken kann. Direkt nach dem Sturz der Taliban war die Sicherheitslage auch in der afghanischen Hauptstadt schwierig, die Taliban hatten alle Bildseiten aus den Büchern der Uni-Bibliothek herausgerissen und verbrannt. Für die Studierenden gab es nur nackte Texte. Mir kam damals zu Gute, dass ich gelernt hatte, mich in widrigen Umständen zu behelfen. Mit einer alten Autobatterie und einem Konverter konnte ich staunende Studierende und kriegsgeplagte Kollegen mit Bildern landwirtschaftlicher Probleme in Afrika und nach einigen Wochen auch aus Afghanistan überraschen. Eine meiner ersten Vorlesung werde ich nie vergessen: die Wände des Raums war voller Einschusslöcher, die Fenster hatten kein Glas mehr und alle Kupferkabel waren aus den Wänden gerissen und nach Pakistan verkauft worden. Es war brütend heiß und stickig in dem übervollen Saal, in dem fleißige Hände aus rohen Brettern eine kleine wackelige, mehrstöckige Tribüne erreichtet hatten, um alle aufzunehmen, die in den Hörsaal wollten.

Welche Rolle spielt dein christlicher Glaube in deiner Arbeit, die du bewusst als Berufung bezeichnest?

Mein Auftrag war damals nicht nur, in Kabul die Chancen für einen agrarwissenschaftlichen, universitären Neuanfang auszuloten und moderne Lehransätze auszuprobieren, sondern auch, die agrarwissenschaftliche Provinzuniversitäten in Afghanistan zu besuchen. Das war der schlechten Straßen und vielen Minen wegen nicht nur logistisch anspruchsvoll, sondern man musste sich auch so rasch und unauffällig wie möglich fortbewegen, die Machtverhältnisse waren ja höchst instabil. Beides hatte ich gelernt. So reiste ich auf dem Landweg von Kabul nach Kandahar, von dort aus nach Herat und weiter nach Masar-i-Scharif, alles mit Sammeltaxis und Pickups. Das ging nur mit Gottvertrauen, welches ich früh aufbauen konnte und hier nötig brauchte angesichts der vielen jungendlichen Kämpfer mit ihren Kalaschnikows und Bazookas, den überdimensioniert wirkenden Panzerabwehrwaffen. Eines Tages auf dem Weg von Kandahar nach Herat, geriet ich in eine Straßensperre, bei der ein Junge seine Bazooka auf mich richtete. Er herrschte mich in brüchigem Englisch wegen irgendetwas an. Nach einem kurzen Friedensgruß fragte ich nach seinem Chef, ein älterer Mann mit wachen Augen und grau-weißem Vollbart im Hintergrund. Ich bat um seinen Schutz, er lud zum Tee und fragte „Warum bist du nach Afghanistan gekommen? Glaubst Du an den einen Gott?“ Als ich letzteres bejahte und er erfuhr, dass ich Lehrer sei, meinte er freundlich nickend. „Gut, das scheint zu stimmen, sonst hättest du jetzt Angst. Du hast aber augenscheinlich keine, also kannst du weiterreisen.“ 

In unzähligen Gefahrensituationen fühlte ich mich mit den Worten Dietrich Bonhoeffers gesprochen „Von guten Mächten wunderbar geborgen“.  Ich hatte in all den Jahren erfüllender Arbeit in Afrika, Asien und Lateinamerika nie das Gefühl, dass mein fragendes Bekenntnis zum Glauben an Gott, unabhängig davon welche religiöse Prägung meine Gegenüber hatten, ein Hindernis gewesen wäre. Im Gegenteil es war, gerade auch mit seinen Zweifeln, Brücke zum Miteinander, und gelegentlich auch Brücke zum Leben.

Über deine wissenschaftliche Tätigkeit hast Du ein Netz von Doktorant*innen in der ganzen Welt aufgebaut. Was war deine Motivation dahinter?

Ich habe mich immer wieder mit der Frage beschäftigt: Für was kann Wissenschaft nutzbar sein? Und insbesondere: Kann sie ein Werkzeug für Empowerment sein? Die Forschung zu Nachhaltigkeit in Gegenden der Welt, wo sonst keiner hinwollte, wurde zunehmenden die Marktlücke für meine Forschung. Und auch ohne Konkurrenz, erfolgt die Forschung nach höchsten wissenschaftlichen Standards, was sich auch daran erkennen lässt, dass ich immer wieder mit der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) zusammengearbeitet habe. Ich war zum Beispiel Leiter der DFG-Forschungsgruppe zur Rural-urbanen Transformation.

Ich forsche entweder in Einzelprojekten oder in Verbundprojekte. Einzelprojekte sind für mich wie Testballons. Bei größeren Projekten ist die Gefahr der Entführung größer, als wenn ich alleine unterwegs bin. Deshalb suche ich Mitarbeiter*innen, die so ticken wie ich. Man muss es schaffen möglichst schnell in der Bevölkerung unterzugehen, man muss agil sein, wenn man mit Autoschiebern oder dem König der Goldsucher in Niger unterwegs ist.

Natürlich arbeite ich auch in größeren Projekten, zum Beispiel in Indien, Marokko und Ghana zum Thema Rurbanity. Wir wollen ja gerne auf dem Land leben, aber alle Vorzüge der Stadt wollen wir nicht aufgeben. Und das ist für eine große Mehrheit der Menschen, inzwischen 55 Prozent der Weltbevölkerung die Wirklichkeit. Und dieses unter ganz kulturellen, unterschiedlichen Bedingungen wie in Indien und in Marokko und in Ghana zu untersuchen und zu zeigen, dass Kolleginnen und Kollegen auch aus diesen benachteiligten Ländern wissenschaftliche Spitzenforschung zur Lösung aktueller Probleme gemeinsam hinbekommen – das ist eine Herausforderung, die ich gerne annehme.

Um die sich daraus ergebenden theoretischen und praktischen Ableitungen zu untersuchen, zum Beispiel für Wassernutzung oder für Nachhaltigkeit von Bewirtschaftung von Böden, dafür nutze ich das Netzwerk aus über 40 Kolleg*innen aus Marokko, USA, Deutschland, Ghana und Indien. 

Was sind die Vorteile eines solchen diversen und internationalen Netzwerks?

Ein solches Netzwerk gibt einem besondere Möglichkeiten. Wir bekommen zum Beispiel noch relativ problemlos aus Indien Boden- und Pflanzenproben exportiert. Weil das Vertrauensverhältnis da ist, dass mit den Proben kein Unfug betrieben wird. Konkret, dass keine Gene extrahiert werden, um sie nachher zu Patenten zu machen.

Und wenn man mir ein Telefon gibt oder noch besser ein Smartphone, dann lässt sich vieles machen. Von Pakistan über den Sudan, bis zu den Großen Seen, also Ruanda und Kongo. Ich war da in der Provinz Kivu, in Bukavu bei den Goldsuchern oder Koltansuchern. Ich weiß, wie die ticken. Mich dort zu bewegen und meine Forschung zu Nachhaltigkeit durchzuführen, funktioniert, weil meine Ansprüche an Unterkunft, an Sicherheit und an Transport gering sind. Ich fahre bis heute prima mit dem Bus, also dem öffentlichen Verkehrsmittel durch die Gegend. 

Andreas sitzt mit einem Mann auf dem Boden. Vor ihnen steht Teebesteck.
Eingeladen zum Chai: Andreas Bürkert in Afghanistan Anfang der 2000er Jahre ©Andreas Bürkert

Welche Beziehungen hast Du zu deinen Doktorand*innen über die Zeit aufgebaut? Welche Erfolge gab es und wurde es auch mal gefährlich?

Ich hatte das Vergnügen über 50 Doktorand*innen zu begleiten, von denen über zwei Drittel aus Ländern mit schwierigen Bildungshintergründen kommen. Dazu gehört auch ein Kollege aus Afghanistan, der später zum Professor berufen wurde. Mir war in der Betreuung wichtig, dass ich die Leute nicht nur darin ausbilde, dass sie im Labor arbeiten können, sondern sie zu unterstützen, dass sie in ihren Heimatländern positive Entwicklungen erwirken. Und ich habe sie immer besucht, egal wie schlecht die Bedingungen waren.

Und ich habe allen die Garantie gegeben, dass sollten sie eines Tages unter extremen Druck kommen, dann würde ich sie aus der Gefahrensituation rausholen. Ich hatte ja auch Frauen im Sudan ausgebildet. Irgendwann kam dann der Lackmustest: Nach der erneuten Machtübernahme der Taliban, also den jetzigen Herrschern in Afghanistan kam der erwähne Kollege stark unter Druck. Nur wenige Tage nach dem Fall Kabuls töten zwei Männer auf einem Motorrad seinen Onkel. Auch er erhielt Todesdrohungen. Er musste weg, das Problem war zusätzlich, dass er sieben Kinder hat. Dank des Beziehungsnetzwerkes konnten wir ihn in einer „Schindlersliste-Aktion“, also bei Nacht und Nebel über die Grenze nach Pakistan bringen. Er hatte Bodenproben als Tarnung dabei und wurde dann in einem Keller in Islamabad versteckt. Über den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag konnten wir ihn zügig in ein Flugzeug setzen und nach Deutschland bringen. Jetzt gilt natürlich die nächste große Herausforderungen der Integration für ihn und seine Familie zu leisten. Da kommt meine Frau ins Spiel, die schon länger in der Integrationsarbeit von Geflüchteten tätig ist.

Du kennst EIRENE seit mehreren Jahrzehnten und bist selbst durch deine Forschung in ähnlichen Bereichen der internationalen Zusammenarbeit tätig. Wie siehst du die Zukunft des EIRENE-Friedensdienstes?

Ich denke, EIRENE ist nach wie vor am Puls der Zeit. Als Gemeinschaft von ganz verschiedenen Menschen besitzt EIRENE die Fähigkeit Friedensfragen in all ihrer Vielfältigkeit mit Gerechtigkeitsfragen zusammen zu bringen. Ich glaube allerdings auch, dass EIRENE noch mehr bewirken könnte, wenn es auch die fachliche Qualifikation ihrer Freiwilligen in handwerklichen Dingen oder eben in der Ausbildung von Handwerker*innen wieder stärker zum Einsatz bringen könnte. Allein Sozial- und Friedensarbeit zu machen, ohne Zimmermann zu sein – ich nehme hier bewusst das biblische Beispiel –begrenzt manchmal die Glaubwürdigkeit. Es kann einen wegbringen von der „banalen“ Wirklichkeit vieler armen Menschen. Schlosser*innen, Ingenieur*innen, Management-Persönlichkeiten, Ärzt*innen mit dem geistigen EIRENE-Rüstzeug loszuschicken, ist für mich immer noch ein gewinnbringender Denk- und Handlungsansatz. Dabei geht es nicht um Paternalismus, ein „Wir können alles besser als andere“. Nein, es geht darum, auch fachlich auf Augenhöhe miteinander zu leben und ganzheitliche Entwicklungsherausforderungen auch ganz praktisch anzupacken. Gerade im westafrikanischen Sahel werden natürlich schnell Sicherheitsbedenken laut. Dem würde ich gerne entgegenhalten: Ja, es ist riskant zu leben, wer es nicht mag, möge zu Hause bleiben und die Decke sich über den Kopf ziehen, aber auch dann wird er/sie sterben. Und ob wir länger oder besser leben unter der materiell schützenden Decke als außerhalb, in der realen Welt, das ist, so scheint mir, oft schwer vorhersagbar.

Das Gespräch führten Josef Freise und Stefan Heiß