Wo kommst Du her?

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© Stefano Rolfo

Elias Talbi war Freiwilliger in Marokko bis Corona 2020 seine Zeit im Ausland beendete. Doch sein Engagement ging weiter: Nach über einem Jahr in Deutschland kehrte er zu seiner damaligen Einsatzstelle Bayti zurück, um deren Arbeit für Straßenkinder zu unterstützen.

Wenn mich jemand fragt wo ich herkomme, dann ist „Pasing“ das erste woran ich denke. Ein behüteter Stadtteil im Westen Münchens. Hier bin ich aufgewachsen. Hier steht das Haus meiner Eltern. Hier fühle ich mich Zuhause. Aber das kann nur ein Teil meiner Antwort sein. Ich bin Deutscher, aber eben nicht nur. Mein Vater kommt aus Marokko und mit ihm zusammen ein großer Teil meiner Familie. Die Erinnerungen an meine Sommerferien in Marokko gehören zu den schönsten meiner Kindheit. AmFreitag  bei meiner Tante Fatima Couscous, danach zum Strand. Bis spät in die Nacht die Straßen voller Menschen. Der Kontrast zum ruhigen München faszinierte mich. Umso mehr störte es mich wie wenig Marokkaner ich selbst immer war. Ich kannte nur ein paar marokkanische Worte und auch ansonsten mochte ich die Distanz zwischen mir und meinem zweiten vermeintlichen Herkunftsland nicht. Nach dem Abitur beschloss ich mir Zeit zu nehmen und nach Marokko zu gehen. Ich wollte die Sprache und das Land besser kennenlernen. So stieß ich auf das Freiwilligenprogramm von EIRENE. Kurz entschlossen bewarb ich mich und bekam eine Stelle als Freiwilliger bei der Association Bayti in Essaouira, einer kleinen Hafenstadt am Atlantik. Bayti, was auf Arabisch mein Haus bedeutet, ist ein Tageszentrum für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche.

Freiwilligendienst und Corona

Zum 1. August 2019 reisten meine Mitfreiwilligen und ich aus und wir verbrachten sieben tolle Monate in Marokko. Ich begann Darija, das marokkanische Arabisch, zu lernen. Die Arbeit machte Spaß und wir kamen viel herum, bis alles zum Stillstand kam.Die ersten Corona-Fälle wurden registriert und Marokko schloss von einem Tag auf den nächsten seine Grenzen. Alle EIRENE-Freiwilligen sollten schnellstmöglich nach Deutschland zurückkehren. Am Menara Flughafen in Marrakesch warteten mein Mitfreiwilliger Jakob Hirsch und ich zwei Tage auf einen Rückholflug des Auswärtigen Amts. Wir bekamen den letzten Flug kurz vor Mitternacht, an einem Freitag Ende März 2020. Am Tag darauf begann in Marokko ein dreimonatiger Lockdown. Nicht so wie in Deutschland, wo Menschen noch spazieren gingen und sich im kleinen Kreis mit Freunden trafen. Stattdessen patrouillierte in Marokko das Militär auf den Straßen – alle mussten zu Hause bleiben.

Zurück in Deutschland fühlte ich mich fehl am Platz. Mir fehlte meine Arbeit, meine neuen Freunde, eigentlich alles. Glücklicherweise fand ich schnell einen Job, um die Zeit bis zum Studienbeginn zu überbrücken, aber das Kapitel Marokko war für mich noch nicht abgeschlossen. Mir war klar: Sobald die Corona-Lage es zulassen würde, fliege ich zurück. Ich studierte für ein Semester Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Regensburg, ehe ich dann im Juni 2021 auf eigene Faust zurückkehrte. Zunächst wieder in das Kinder- und Jugendzentrum Bayti in Essaouira.

Bereits in meiner ersten Zeit in Marokko hatte ich Glück mit meiner Einsatzstelle. Ich verstand mich sehr gut mit meinen Kolleg_innen und war bereits während meines Freiwilligendienstes ein fester Bestandteil des Bayti-Teams. Ich übte mit den Kindern Französisch, unterrichtete Englisch und ging mit einer Gruppe Jugendlicher einmal pro Woche Surfen. Allerdings wollte ich mehr von Marokko erleben und am besten nochmal in einer anderen Stadt wohnen. Nachdem ich bei meinem zweiten Aufenthalt in Marokko vier Monate in Essaouira verbracht hatte, ging ich zur Hauptgeschäftsstelle von Bayti nach Casablanca. Mit 3,5 Millionen Einwohner_innen ist sie die mit Abstand größte Stadt Marokkos.

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In Casa, wie Casablanca umgangssprachlich genannt wird, regiert das Chaos. Dennoch wäre es unfair zu sagen, die Stadt sei nicht sehenswert. Sie ist so riesig, dass jedes Viertel ein gewisses Eigenleben hat. Manche erinnern mich an unser Wohnviertel in Essaouira, in anderen hat man den Eindruck, dass man in einer modernen europäischen Großstadt ist, wären da nicht die unzähligen Straßenkinder.

"Sie haben die Straße gewählt, weil sie es Zuhause nicht mehr ausgehalten haben."

Schätzungsweise 7.000 Kinder und Jugendliche leben allein in Casablanca auf der Straße. Sie sind ein fester Bestandteil des Stadtbilds und zeigen die enorme soziale Ungleichheit in Marokko. Bayti in Casablanca versucht Straßenkindern eine Rückkehr in  die Gesellschaft zu ermöglichen.

Für zwei Monate begleitete ich die Sozialarbeiter_innen Baytis bei ihrer Arbeit. Montags, mittwochs und freitags war ich mit ihnen auf der Straße unterwegs. Dienstags und donnerstags half ich in einem stationären Zentrum. Zwei Lehrer_innen geben dort Unterricht für Kinderaus sozialen Brennpunkten, damit diese nicht den Anschluss verlieren und die Schule ohne Abschluss verlassen. Jedes Jahr verlassen zehntausende marokkanische Kinder frühzeitig die Schule. Die meisten davon Mädchen imländlichen Raum. Das Schulsystem in Marokko ist dem Ansturm junger Menschen nicht gewachsen, etwa jede_r vierte Marokkaner_in ist unter 15 Jahren alt. Es fehlt an Schulen und qualifiziertem Lehrpersonal.

Das Zentrum Bayti in Casablanca ist zwei Tage die Woche für Straßenkinder geöffnet.  Neben Frühstück und Mittagessen, bekommen sie dort Kleidung und können duschen. Die Kinder, die wir auf den Straßen treffen und die zum Zentrum kommen sind anders als die Kinder und Jugendlichen von Bayti in Essaouira. Leer und ausdruckslos sind ihre Augen. „Sie haben die Entscheidung getroffen“, erzählt mir Abdellah Nasser, Straßensozialarbeiter bei Bayti. „Sie haben die Straße gewählt, weil sie es Zuhause nicht mehr ausgehalten haben.“ Körperliche und sexuelle Gewalt, Alkohol- und Drogenmissbrauch der Eltern. Jedes Kind hat seine eigene furchtbare Geschichte.

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Für den Staat existieren diese Kinder nicht wirklich. Viele von ihnen sind noch nicht einmal offiziell gemeldet, haben keine Papiere und es gibt keine staatliche Instanz, die versucht dem Problem entgegenzuwirken. Nur einige soziale Organisationen versuchen den Kindern zu helfen, aber es sind einfach zu viele und Bayti und ähnliche NGOs haben keine großen Budgets. Ursachen für das Elend dieser Kinder gibt es mehrere. Viele Familien ziehen vom Land in die großen Städte, mit der Hoffnung auf  eine bessere Zukunft, finden jedoch keinen Anschluss und verarmen. Die Kinder werden sich selbst überlassen, brechen die Schule ab und enden auf der Straße. Um ihren Alltag erträglich zu machen, schnüffeln sie Klebstoff. Für fünf Dirham, umgerechnet 50 Cent, kaufen sie eine kleine Flasche davon. Sie tränken einen Stofffetzen in der Flüssigkeit und inhalieren. Der dauerhafte Konsum schädigt das Gehirn und hemmt das Wachstum.

Während meiner Zeit lernte ich auch viele Geflüchtete aus dem Subsahara-Raum kennen, die jede Woche zu Bayti in das Tageszentrum kommen. In Casablanca am Busbahnhof kommen jeden Tag aufs neue Geflüchtete an. Sie schlafen in einem naheliegenden Park und versuchen als Tagelöhner genug Geld für den Bus nach Ceuta, oder Melilla zu sparen. Ceuta und Melilla sind zwei Städte im Norden Marokkos, die bis heute zu Spanien gehören. 1956 wurde Marokko von Frankreich und Spanien unabhängig, aber Spanien bestand darauf Ceuta und Melilla als Exklaven zu behalten. Viele Afrikaner_innen versuchen über die Grenze zu kommen, um dann in der Europäische Union Asyl zu beantragen. Spanien reagierte und baute die Grenzanlagen massiv aus und so liegt die am stärksten befestigte EU-Außengrenze heute in Afrika.

In den zwei Monaten, die ich in Casablanca verbrachte, schaffte es keiner der Geflüchteten, die ich kennengelernt habe, nach Europa.

"Immerhin schläft es sich in Marokko besser als im Tschad, so ganz ohne die Schüsse nachts."

Einige von ihnen werden mir für immer im Gedächtnis bleiben. Da ist Mostafa aus dem Tschad. Er ist gerade mal 17 Jahre alt. Seit drei Jahren ist er unterwegs. Vom Tschad in die Zentralafrikanische Republik, Kamerun, Nigeria, Niger, Algerien und endlich nach Marokko. Sieben Mal hat er bereits versucht nach Spanien zu kommen. „Ich bin müde“, sagt er mir. „Ich werde ein paar Wochen warten, bis ich es das nächste Mal versuche.“ Trotz der aussichtslosen Lage ist er immer gut gelaunt und begrüßt uns morgens mit einem breiten Grinsen. „Immerhin schläft es sich in Marokko besser als im Tschad, so ganz ohne die Schüsse nachts“, erzählt er mit einem gezwungenen Lächeln. Dann ist da Salahdin aus dem Sudan. Mitte zwanzig. Bei dem Versuch über die Grenze nach Melilla zu kommen hat die marokkanische Polizei ihm sein Geld, seinen Pass und sein Handy weggenommen. Dann wurde er mit anderen Geflüchteten in einen Bus in den Süden gefahren und in Chichaoua, einer Kleinstadt umgeben von Steinwüste, ausgesetzt. Mit den anderen Geflüchteten ging er 150 Kilometer zu Fuß bis nach Marrakesch. Das Ganze im August, wo es in dieser Region regelmäßig über 40 Grad heiß wird. Die EU überweist jedes Jahr Millionen von Euros an Marokko, um illegale Migration zu stoppen. Das Migrant_innen von Teilen der marokkanischen Polizei beklaut und misshandelt werden, ist ein offenes Geheimnis.

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Ich fühle mich schuldig all dieses Leid und die Ungerechtigkeit zu sehen und zu wissen, dass ich jederzeit ohne Probleme mit meinem deutschen Pass wieder nach Europa zurückkehren kann. Gerne würde ich meinen kleinen Bericht mit etwas Positivem beenden. Ich würde gerne schreiben, dass in ein paar Jahren keine Kinder mehr auf den Straßen von Casablanca schlafen müssen, oder dass in Zukunft Menschen nicht mehr ihr Leben riskieren werden, um nach Europa zu kommen, weil es sich in in ihrer Heimat gut leben lässt. Aber nichts davon kann ich schreiben, denn ich weiß nicht, was die Zukunft bringt.

Nach meiner Zeit mit EIRENE und Bayti weiß ich allerdings, dass jeder von uns seinen Teil zu einer besseren Welt beitragen kann. Es ist oft einfacher als man denkt. Ich will mich auch in Zukunft engagieren und dabei helfen Menschen eine Perspektive zu geben, die nicht so viel Glück im Leben hatten wie ich.

Elias Talbi