Ein Kollektiv gegen das Vergessen

Braulio Abarca ist einer von Tausenden Nicaraguaner*innen, die in den letzten Jahren aufgrund von Verfolgung ihr Land verlassen musste. Der Menschenrechtsaktivist lebt heute in Spanien. Im EIRENE-Interview schildert er, wie seine Heimat immer mehr zu Diktatur wurde und welche Arbeit er mit dem Kollektiv „Nicaragua Nunca Más“ für Geflüchtete in Costa Rica leistet.
Die Menschenrechtsorganisation CENIDH, bei der Du jahrelang gearbeitet hast, wurde 2018 in Nicaragua verboten. Aufgrund von Repressionen musstest Du das Land verlassen und bist seitdem in Costa Rica. Wie kam es dazu?
Bereits in 2013 stellten wir fest, dass die Menschen müde wurden von der Regierung des Präsidenten Daniel Ortega und seiner Frau Rosario Murillo. Das Leben fühlte sich immer mehr wie in einer Diktatur an: staatliche Unterdrückung, keine unabhängigen Gerichte, ineffektive Arbeit korrupter staatlicher Institutionen, und die Bevölkerung wurde zusehends ihrer Menschen- und Freiheitsrechte beraubt.
Im Jahr 2018 wurde eine Rentenreform verabschiedet, die drastische Kürzungen für viele ältere Menschen bedeutete. Eine große Protestbewegung wuchs heran, die sich von der Hauptstadt Managua übers ganze Land ausweitete. Sie wurde mit aller Härte von staatlicher Seite niedergeschlagen, es gab Gewalt gegen unbewaffnete Zivilist*innen, Menschenrechtsverletzungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und außergerichtliche Verurteilungen.
In dieser Zeit dokumentierte CENIDH tausende Fälle gravierender Menschenrechtsverletzungen, und ich persönlich betreute etwa 14 Familien, deren Angehörige in den Protesten von 2018 getötet wurden. Auch kümmerte ich mich um Folteropfer, die in Gefängnissen körperliche, sexualisierte und psychische Gewalt erlitten hatten und begleitete Familien von Gefangenen des Foltergefängnisses „El Chipote“. Am 13. Dezember 2018 wurden wir selbst Opfer der staatlichen Unterdrückung: Sicherheitskräfte und die Polizei beschlagnahmten und durchsuchten das Büro von CENIDH, sie nahmen sowohl Ordner, Computer und Festplatten mit, als auch persönliche Sachen von Mitarbeitenden - praktisch alles! Wir waren als Menschenrechtsverteidiger*innen in das Fadenkreuz des Regimes geraten, und es wurde gefährlich. Ich musste fliehen!
Im Dezember 2018 - ich erinnere mich noch genau – traf ich in Costa Rica sechs Kolleg*innen von CENIDH, und Wochen später gründeten wir das Menschenrechts-Kollektiv „Nicaragua Nunca Más“, denn die Diktatur sollte uns nicht zum Schweigen bringen. Ein Jahr nach den sozialen Protesten in Nicaragua, am 30. April 2019, stellten wir unseren ersten Bericht über Folter in Nicaragua mit dem Titel „Wieder Mensch werden“ vor.
Es sind mittlerweile Hunderttausende aus Nicaragua nach Costa Rica geflohen, gleichzeitig hat sich dort die Migrationspolitik verschärft. Wie ist die Lage für Geflüchtete in Costa Rica jetzt?
Die Situation der nicaraguanischen Geflüchteten in Costa Rica ist wirklich schwierig. Derzeit sind hier mehr als 250.000 gewaltsam vertriebene Nicaraguaner*innen, die aus verschiedenen Gründen an der Ausübung ihrer Rechte gehindert werden. So sind Behördengänge in Costa Rica nicht möglich, wenn man keine E-Mail-Adresse hat. Diejenigen, die sich kein Smartphone oder Internetzugang leisten können, sind außerstande, behördliche Termine wahrzunehmen oder die Weiterbearbeitung ihres Falls zu verfolgen.
Costa Rica ist im weltweiten Vergleich ein Land mit mittlerem bis hohem Einkommen, aber Geflüchtete sind existentiell bedroht. Eine UNHCR-Studie besagt, dass die meisten Nicaraguaner*innen zu wenig Nahrung zu sich nehmen – nur zwei Mahlzeiten am Tag! Auch ist die Gesundheitsversorgung für sie eingeschränkt, Krankenhäuser sind zwar öffentlich, aber ohne Sozialversicherung gibt es keine Behandlung. Die Geflüchteten erleben fast täglich Diskriminierung, die sie einschüchtert. Ich beobachte, dass viele Nicaraguaner*innen Angst haben, sich als solche zu erkennen zu geben. Viele verändern ihre Sprache und verheimlichen den nicaraguanischen Akzent.
Um zu überleben arbeiten die meisten geflüchteten Nicaraguaner*innen irregulär, d.h., sie haben keine Versicherung, keinen Anspruch auf festen Lohn oder Urlaub. Wer in Nicaragua studierte, hat hier keine Möglichkeit sein Studium fortzusetzen, da Prüfungsergebnisse von den hiesigen Universitäten nicht anerkannt werden. Auch Schulabschlüsse aus Nicaragua werden meist nicht anerkannt, der Bildungsweg ist für viele blockiert.

EIRENE unterstützt euer Kollektiv "Nicaragua Nunca Más", dass sich für nicaraguanische Geflüchtete in Costa Rica einsetzt. Was macht das Kollektiv konkret?
Unsere Menschenrechtsarbeit verfolgt einen dreifachen Ansatz: Zunächst dokumentieren wir Menschenrechtsverletzungen, die von staatlicher Seite in Nicaragua begangen wurden. Dafür sammeln wir die Schicksale der Geflüchteten in einem „historischen Gedächtnis“, das später für Aufarbeitungs- und Versöhnungsprozesse genutzt werden kann. Die Möglichkeit von erlittenem Unrecht zu berichten, trägt zu einer emotionalen Heilung bei. Zusätzlich unterstützen wir bei Asylverfahren, zum Beispiel um einen Personalausweis zu bekommen. Der kostet 90 US-Dollar, das ist eine hohe Summe für Geflüchtete. Dank der Unterstützung von EIRENE konnten wir 15 Menschen einen Personalausweis beschaffen.
Auch leisten wir psychologische Unterstützung. Das Exil und die Flucht verursachen Wunden, die schwer zu heilen sind. Mit ganzheitlichen Ansätzen bringen wir Geflüchtete wieder in eine mentale und emotionale Stabilität, damit das Leben für sie hier weitergeht.
Der zweite Ansatz ist Bildungsarbeit: Wir machen Ausbildungs-Seminare sowohl in städtischen wie in ländlichen Regionen Costa Ricas. Mit Unterstützung von EIRENE arbeiten wir in den Grenzregionen Los Chiles und Uppala und klären die Geflüchteten über ihre Rechte auf, informieren sie über die Gesetzeslage in Costa Rica und ermöglichen Geflüchteten, Beschwerdemechanismen und Ombudsstellen für ihre Anliegen zu nutzen. Wir versuchen also, Menschenrechte durch Bildung zu fördern. Wir machen lokale Advocacy-Arbeit und klären die dortigen Behörden über die Situation der Geflüchteten auf, um ihre Situation zu verbessern.
Und der dritte Ansatz ist die internationale Ebene. Als Kollektiv machen wir ein permanentes Monitoring der Situation der nicaraguanischen Vertriebenen und wollen sichtbar machen, vor welchen Herausforderungen Geflüchtete in Costa Rica stehen. Wir wollen der internationalen Gemeinschaft zeigen, wie viele Menschen aus Nicaragua in prekären Verhältnissen leben, und dass wir auf Veränderungen drängen.
Wie bewertest du die internationale Aufmerksamkeit in Bezug auf Nicaragua?
In meinen Augen wird die Welt immer individualistischer, wir vergessen unsere Verpflichtung zur internationalen Solidarität. Die Europäische Union oder andere Staaten, die die sogenannten „Entwicklungsländer“ unterstützen, dürfen Nicaragua in einem solch verwundbaren Moment nicht vergessen.
Auch sind die nicaraguanischen Exilant*innen in Costa Rica für die internationale Hilfe nicht so relevant wie zum Beispiel die Bekämpfung von Hunger in Afrika oder die Wahrung von Frauenrechten. Ich verstehe das. Gleichzeitig brauchen wir Unterstützung, denn wir sind nicht freiwillig gekommen, sondern die Diktatur in Nicaragua hat uns gezwungen, in Costa Rica Schutz zu suchen.
Das Kollektiv hat sich mit anderen internationalen Organisationen zusammengetan, um vor der Menschenrechtsversammlung in Genf und der UN-Generalversammlung in New York dokumentierte Fälle von Menschenrechtsverletzungen zu präsentieren. Denn Einigkeit macht uns stark. Allianzen und Netzwerke sind wichtig für erfolgreiche internationale Advocacy-Arbeit. Wir haben dazu beigetragen, dass es derzeit im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eine eigene Arbeitsgruppe zu Nicaragua gibt, die GHREN. Sie untersucht die Vorfälle seit 2018. Aber die internationale Gemeinschaft kann mehr erreichen, sie sollte Hilfszahlungen an Regierungen beenden, die ihre Bevölkerung gewaltsam unterdrücken. Das Geld für humanitäre Hilfe erreicht zum Beispiel in Nicaragua nicht die Menschen, sondern bleibt in Strukturen der Diktatur hängen.
Siehst du in der Zukunft Möglichkeiten für einen friedlichen Wandel in Nicaragua?
Ich habe leider keine magische Kristallkugel, und es schmerzt mich zu sehen, dass Präsident Ortega und seine Frau Murillo ihre monarchische Dynastie voll ausnutzen, um unser Volk zu zerstören. Nicaragua wird sich als Diktatur weiter isolieren. Wahrscheinlich wird sich das Land zunehmend aus internationalen Foren zurückziehen, so wie es schon aus der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ausgetreten ist. Für Veränderungen wollen wir keinen weiteren Tropfen Blut vergießen, wir wollen keinen Krieg. Ein Ausweg aus der Diktatur kann nur zivil, friedlich und gewaltfrei sein! Das kann noch lange dauern, aber ich habe Hoffnung, dass es dazu kommt. Dafür ist es notwendig, weiter Druck auf Ortega und Murillo auszuüben. Demokratie wird mit ihnen nicht möglich sein, sie müssen abtreten und sich einem Prozess der Übergangsjustiz unterziehen. Und bevor das passiert, werden sie aus Rache alles zerstören, was sie können. Es wird also vielleicht noch eine dunklere Phase kommen als das, was wir bisher gesehen haben.
Wie siehst du die Perspektive für die nicaraguanische Zivilgesellschaft?
Die Zivilgesellschaft ist stark fragmentiert und die organisierte Zivilgesellschaft wurde ohnehin zerschlagen. Mehr als 5.800 Organisationen sind seit 2018 verboten. Seitdem ist es quasi unmöglich in Nicaragua zu arbeiten. Was aber möglich ist, ist Menschenrechtsarbeit im Exil, wie es das Kollektiv in Costa Rica macht. Wir dokumentieren weiterhin Fälle von Menschenrechtsverletzungen und haben bisher zwei digitale Ausbildungszyklen zu Menschenrechten für jungen Nicaraguaner*innen entwickelt, womit wir über 400 Menschen erreicht haben. Und für das „Nicaragua außerhalb Nicaraguas“ gibt es derzeit in Costa Rica mehr als 50 nicaraguanische Organisationen, die sich für Erinnerungsarbeit, Menschenrechte, Frauenrechte und für Migrant*innen einsetzen. Wir versuchen unsere Arbeit nachhaltig zu gestalten. Das ist nicht einfach, zumal jetzt die Mittel von USAID eingefroren wurden und wir nicht wissen, was passieren wird. Ich weiß auch nicht, was der Vormarsch der Rechten in Europa für Folgen haben wird. Immer mehr Länder wollen die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit kürzen. Für sogenannte „Entwicklungsländer“ und Länder, die Migrant*innen aufnehmen, kann dies verhängnisvoll sein. Wir haben keine andere Wahl, wir müssen nach Wegen suchen, um weiter arbeiten zu können, mit oder ohne Unterstützung. Wir müssen weiterhin die Menschenrechte verteidigen und die Erinnerung an das erlittene Unrecht für die nicaraguanische Bevölkerung am Leben erhalten.